Zeitreise

Damals…
Ich bin acht Jahre alt und mit meiner Mama im Dorf unterwegs, um einzukaufen. Wir sind gerade beim Metzger und stehen an. Meine Mama hält meine Hand fest und ich drücke mich eng an sie. Es ist Samstagmorgen und proppenvoll. All die großen Frauen um mich herum mit ihren lauten, schrillen Stimmen! Meine Mama gibt ihre Bestellung auf und ich lausche, was die Frauen da so reden. Wortführerin ist – wie so oft – eine korpulente Dame im blauen Mantel. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber sie unterhält sich so laut mit den Leuten, dass alle zuhören können. So auch jetzt:

„Habt ihr schon das von Bergers Ute gehört?“ „Nein, was denn?“, fragt die Dame neben ihr. Die laute Frau richtet sich zu voller Körpergröße auf: „Die geht ja jetzt arbeiten!“
Sie dreht sich zu den anderen Kundinnen um, wohl wissend, dass jede sie gehört hat. Dann fährt sie in entrüstetem Tonfall fort: „Die macht doch jetzt einen auf ganz schick. Mit so einem ‚Businesskostüm‘ und einem Kaschmirschal! Na ja“, sie wackelt mit den Augenbrauen und ein paar der Frauen kichern, „zumindest behauptet sie, es wäre einer …“

„Die Bergers Ute?“, mischt sich eine andere Dame ein. Sie ist dünn und klein und hat vier Söhne, von denen zwei gemein sind. Mindestens zwei. „Die hat doch vor zwei, drei Jahren erst ihr Zweites bekommen!? Wieso geht die denn jetzt arbeiten?“ Die Frau im blauen Mantel weiß mehr: „Ja, die hat wohl damals Sekretärin gelernt und hat jetzt in der Firma ihres Schwagers angefangen…“ „Ja und die Kinder?“, verlangt nun eine andere Dame zu wissen. „Das Große geht doch noch in den Kindergarten und das Kleine ist doch noch keine drei Jahre alt!?“ „Ihr werdet es kaum glauben“, fährt die Mantelfrau mit schriller Stimme fort, „aber die Kinder, die hat sie weggegeben!“

„Was?“, kommt es gleich aus mehreren Mündern; mittlerweile folgen alle Frauen im Laden der Unterhaltung, auch meine Mutter. „Das glaube ich nicht!“, murmelt sie
„Ja, wenn ich es euch doch sage!“ Die laute Frau grinst selbstzufrieden. „Die sind jetzt tagsüber bei einer Frau im Nachbarsdorf. Bei einer Wildfremden! Das muss man sich mal vorstellen!“ Einige schnappen empört nach Luft. Es fallen Wörter wie „Rabenmütter“, „Karrierefrauen“, „gierig“ und „Schlüsselkinder“, aber ich weiß nicht, was das alles bedeutet.
Inzwischen ist meine Mutter fertig und wir verlassen den Laden, in dem viele Frauen jetzt wild durcheinander schnattern. Meine Mutter schaut noch einmal zurück und schüttelt den Kopf. Draußen dann geht sie vor mir in die Hocke, schaut mich an und sagt: „Mein Schatz, merkt dir eins: Die Leute brauchen immer was zum Reden! Das war so, das ist so, und das wird auch immer so sein! Also fang nie an, dich darüber aufzuregen. Das ist es nicht wert und macht dich nur unglücklich. Und versuche auch nie, es allen recht machen zu wollen. Leb dein Leben, wie du es für richtig hältst und pfeif drauf, was andere sagen. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“ Ich verstehe nicht genau, was sie meint, aber ich nicke trotzdem. Und es tut gut, als sie mich in den Arm nimmt und fest an sich drückt. Dann gehen wir weiter.

Gestern…
Ich bin meiner Kleinen unterwegs, einkaufen. Wir sind grade beim Metzger und stehen an. Saskia hält meine Hand fest und drückt sich eng an mich. Ich habe gerade meine Bestellung aufgegeben, als mich eine Bekannte anspricht: „Ach hallo! Wie geht es Ihnen?“
„Och, soweit ganz gut. Und selbst?“ „Ach ja, es muss ja, nicht wahr? Ist ja immer was tun, nicht wahr, zu Hause und im Büro … Ist nicht einfach, nicht wahr? Aber das wissen Sie als berufstätige Mutter ja sicher selbst!“ Ich bin verwirrt. Berufstätig, ich? „Nun ja, ich bin Hausfrau, aber sonst gehe ich noch nicht wieder arbeiten.“ Ich streiche Saskia über den Kopf. „Nicht, solange Jannis und Ella noch so klein sind.“ „Von mir aus kannst du ruhig arbeiten gehen“, piepst Saskia. „Ich weiß, mein Schatz, du bist ja auch schon groß!“
Meine Bekannte mustert mich irritiert: „Ah so? Also das hätte ich ja jetzt nicht gedacht, dass Sie nur Hausfrau sind …?“ Obwohl mir das Wort „nur“ deutlich unter die Haut geht, schlucke ich meinen Ärger hinunter. „Ich hätte nichts gegen einen Job – irgendwann mal. Aber nicht, solange die Kinder noch so klein sind. So lange bleibt einer von uns zu Hause, das haben mein Mann und ich so entschieden.“ „Dann wollen Sie also noch die nächsten Jahre nur Hausfrau bleiben?“ stichelt sie weiter. „Und sonst nichts tun?“ Ich nicke.
Sie schüttelt den Kopf. „Also das verstehe ich nicht! Geben Sie Ihre Kinder doch einfach länger in die Kita oder suchen sich eine Tagesmutter! Also, sich nur um den Haushalt und die Familie zu kümmern …“ „Nun, das muss jeder für sich selbst entscheiden, meinen Sie nicht?“ Meine Bekannte rümpft die Nase. „Na ja, wenn Sie meinen …“

Ich lächele sie genauso falsch an wie sie mich, nehme meine Einkäufe entgegen, zahle, nehme die Hand meiner Tochter und verlasse das Geschäft. Draußen gehe ich vor ihr in die Hocke. „Weißt du was, mein Schatz? Ich erzähle dir jetzt mal etwas, das vor langer Zeit einmal deine Oma zu mir gesagt hat …“