WOLL-Blick aus Berlin

Quelle: Disput/ Berlin!GmbH

IN DER DEUTSCHEN POLITIK IST ES IMMER IRGENDWIE 5 NACH 12

Neulich im Sauerland staunte ich nicht schlecht: Statt des üblichen Hin und Her von Regen, Wolken, Sonne, von kühl über weniger kühl zu fast warm, umfing mich feuchtwarme Hitze, tropisch, fast wie im fernen Florida. Auch wer sich ungeschützt auf den Straßen von Berlin bewegte, bekam so viel Nässe ab wie lange nicht mehr. Der Regen ist geblieben (gut für die Natur), doch der Sommer hat sich verzogen. Vorbei auch die Sommerpause im politischen Berlin. Fraktionen und Regierungen gehen zu Beratungen in Klausur. Das Kabinett von Olaf Scholz ist mal kurz zum Luftholen und Zusammenraufen nach Schloss Meseberg. Ich frage mich, ob die Ankündigungen und Beschwörungen von dort doch noch so etwas wie ein Wir-Gefühl in dieser Patchwork-Koalition aufkommen lassen. Das wäre gut, denn das Ende des Sommers 23 markiert auch die Halbzeit dieser Legislaturperiode.

Am Wir-Gefühl und an Power mangelt es nicht nur der Regierungskoalition, sondern auch der Union. Immerhin hat CDUChef Merz die Sommerferien nach seinen wenig glücklichen AfDÄußerungen erstaunlich unbeschadet überstanden. So ging das zweite öffentlich-rechtliche Sommerinterview glimpflich über die Bühne. Man kann nur hoffen, dass die Winkhauser Fraktionsklausur auf Dauer die UnionsKöpfe frei macht für eine selbstbewusstere, zukunftsorientierte Oppositionspollitik. Es wäre an der Zeit.

Das große Berlin kommt dieser Tage nicht nur ins Sauerland, sondern auch umgekehrt: Das Land der tausend Berge spielt in der Hauptstadt groß auf: In der ersten Septemberwoche öffnete die NRW-Vertretung für das erste Parlamentarische Schützenfest in Berlin ihre Pforten. Organisator: der Verein Sauerländer Botschaft (in dessen Vorstand ich bin, was ich hier aus Transparenz-Gründen bekenne). Friedrich Merz war schon letztes Jahr nicht beim Sauerländer Sommerfest in Berlin erschienen. Auch diesmal warteten die vielen Gäste und Firmenvertreter aus der Heimat vergebens auf den Wahlkreisvertreter der CDU. Dafür aber ließ sich Hausherr, Ministerpräsident Henrik Wüst blicken.

Der Briloner MdB Dirk Wiese von der SPD-Konkurrenz teilte seine Zeit auf: erst Schützengaudi mit den Sauerländern, dann das Gartenfest der „Seeheimer“. Wiese ist Sprecher dieser Gruppierung, die traditionell die „Realos“ bei der SPD umfasst.

Auch denen dürfte nicht entgangen sein, wie groß die Unzufriedenheit der Bürger mit der Regierung ist. Dazu eine schlingernde Wirtschaft, die sich über überbordende Bürokratie, schlechte Infrastruktur, hohe Energiepreise oder Fachkräftemangel beklagt.

Der britische „Economist“ fragt auf seinem Titelblatt gar, ob Deutschland wieder der kranke Mann Europas sei. Und in der Tat: Im Umgang mit großen Themen – Klimawandel, Energieversorgung, Rüstungsausgaben, Inflation – geht es immer nur um Notstandsbekämpfung. Manches, was die Koalition sonst noch beschäftigt, wirkt dabei nebensächlich, wie die Cannabisfreigabe oder das Personenstandsgesetz. Meist geht es in irgendeiner Weise um die Abwendung von Diskriminierungen; irgendeine Gruppe fühlt sich in Deutschland immer benachteiligt. Die Regierung wirkt mitunter wie ein Flickereibetrieb, der mit heißer Nadel Fäden über Löcher und Risse spannt und sich dabei im Klein-Klein verheddert.

In der deutschen Politik ist es immer irgendwie 5 nach 12.

Das verunsichert. Was wir brauchen, ist ein ehrgeiziger, vorausschauender Fahrplan für Deutschland, ja, und auch für Europa, über die aktuelle Legislaturperiode hinaus. Wie wollen wir in zehn, 20 Jahren leben, wo muss der Staat sich stärker einmischen, wo sollte er sich raushalten? Wo sind die ehrgeizigen Konzepte und Arbeitsaufträge, die mehr wollen als „irgendwie fertig“ werden, die nachhaltig sind und wirklich der Gesellschaft, den Bürgern nutzen?

Zugegeben, die Probleme sind nicht trivial. Vieles hat die Regierung von den Vorgängern geerbt, andere Themen kommen von außen an uns heran. Doch bei der Lösungskompetenz und beim inneren Zusammenhalt von Ampel und größter Oppositionspartei ist noch deutlich Luft nach oben. Wie gesagt, es ist Halbzeit, der Sommer geht und der Wind wird rauer.