„Wissen ist der größte Schatz!“

Quelle: privat

Vom Möhnesee in die Trockensavanne 

Albert Schweitzer inspirierte den Soester Internisten Dr. Peter Schwidtal dazu, selbst Arzt zu werden und sich für Menschen in Afrika einzusetzen. Nach über 15 Jahre Engagement in der Hilfsorganisation „Hammer Forum“ gründete Peter Schwidtal in Körbecke mit Freunden „ArcheMed – Ärzte für Kinder in Not“. Mittlerweile zählt der Verein über 1.000 Mitglieder. Wir trafen den Mediziner zum Interview. 

WOLL: Herr Schwidtal, Sie führen vom Möhnesee aus eine NGO (Anmerkung: eine Nicht-Regierungsorganisation), die europaweit Kinderhilfsaktionen in Eritrea organisiert. Wie funktioniert das? 

Peter Schwidtal: Als Internist kann ich nicht operieren, aber ich organisiere gern. Die einzelnen Kliniken übernehmen Patenschaften für ihre Kollegen in Eritrea, so dass immer dieselben Menschen miteinander zu tun haben. So lernt man einander kennen und baut Vertrauen auf. Die Teams, die nach Eritrea fliegen, sind keine ‚ausführenden Handlanger‘ von ArcheMed, sondern setzen ihre eigenen Ideen um.  

WOLL: Wie oft fliegen solche medizinischen Teams aus Europa, also Ärzte, Ärztinnen und Pflegepersonal, nach Afrika? 

Peter Schwidtal: Zwei bis drei Mal im Jahr für je zwei Wochen. 

WOLL: Wäre es nicht einfacher, die Kinder hierhin zu holen? 

Peter Schwidtal: 1995 hatten wir vom Hammer Forum tatsächlich vier Kinder hierhergeholt und operiert. Damals gab es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen Eritrea und Deutschland, die Kinder hatten keine Pässe. Das war sehr schwierig. Tatsächlich sind wir dann noch im gleichen Jahr mit einem Chirurgenteam runtergeflogen.  

WOLL: Ich frage mal ganz dumm: Gibt es in Eritrea denn keine Chirurgen? 

Peter Schwidtal: Doch, natürlich! Das sind hochkompetente Kollegen dort und es gibt eine sehr gute Schwesternschule. Die jungen Chirurgen können alle einen Blinddarm operieren, aber es fehlt das Fachwissen für alles Spezifische. Von wem sollen sie es lernen? Wenn zum Beispiel ein Kind eine Gaumenspalte hat, braucht es einen Mund-Kiefer-Gesichtschirurg. Zum Vergleich: In Eritrea leben etwa fünf Millionen Menschen und insgesamt vier Fachärzte für Chirurgie. Da haben wir allein in Soest mehr. 

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WOLL: Ich verstehe. Wie ist denn allgemein die medizinische Versorgung in Eritrea?  

Peter Schwidtal: Das Land hat lange unter Krieg gelitten. Außerdem liegt es in einer Dürreregion. Wir schimpfen hier ja viel, aber man macht sich keine Vorstellung, was Corona dort unten angerichtet hat. Es gibt dort einige „Help Stations“ und gute Vorsorgeprogramme in Sachen Malaria, HIV und Tuberkulose. Trotzdem hat das Land keine gute Infrastruktur. Es herrscht Mangel an Desinfektionsmittel, Medikamenten und qualifiziertem Personal.  

WOLL: Ich schätze, da ist es wichtig, die Begebenheiten vor Ort zu kennen … 

Peter Schwidtal: Einmal fiel bei einer Kinder-Herz-OP am offenen Brustraum plötzlich der Strom aus. Die Kollegen behalfen sich mit ihren Handys und Taschenlampen; Anästhesie und Herz-Lungen-Maschine wurden per Handkurbel weiterbetrieben. Für uns in Deutschland unvorstellbar. 

WOLL: Und dann? 

Peter Schwidtal: Die OP ist gut verlaufen. Später haben wir ein Notstromaggregat sowie eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach der Klinik errichtet, so dass eine sichere Stromversorgung gewährleistet werden konnte. Wir wollen also nicht nur operieren, sondern auch die Infrastruktur verbessern, Kliniken und OP-Säle so ausstatten, dass sie dort funktionieren.  

WOLL: Läuft das alles über Geldspenden? 

Peter Schwidtal: Nicht nur. Oft dürfen wir auch aus geschlossenen Krankenhäusern medizinische Geräte und Einrichtungsgegenstände entnehmen. Bislang konnten wir von unserem Lager in Echtrop aus schon 66 Schiffscontainer nach Eritrea schicken. 

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WOLL: Ich sehe hier gerade auf dem Foto ein Kind mit einem Kanister auf einem Esel. Was hat es damit auf sich? 

Peter Schwidtal: Oft müssen vor allem Mädchen weit laufen, um Wasser zu holen. Das sind mitunter 15 Kilometer jeden Tag. Wenn wir einem Kind für 200 Euro einen Esel kaufen, hat es neben dem Wasserholen noch Zeit, in die Schule zu gehen. 

WOLL: Wie sind die Menschen dort? 

Peter Schwidtal: Sie sind wahnsinnig dankbar, strahlen so viel Freundlichkeit und Würde aus. Die Menschen dort sind liebenswert, aber zurückhaltend, oft bitterarm und verzweifelt. Kranke Kinder gibt es im Überfluss. Wenn die Leute hören, dass wir da sind, rennen sie uns die Bude ein. 

WOLL: Sie waren also auch schon oft selbst vor Ort? 

Peter Schwidtal: Ja, davon allein drei Mal mit meiner Frau. Einmal mit der Schauspielerin Senta Berger, die auch unsere Botschafterin und tatsächlich genau so sympathisch und herzlich ist, wie in ihren Filmen. Eigentlich wollten wir im April 2020 gemeinsam eine neue Klinik einweihen, aber dann kam uns Corona dazwischen. 

WOLL: Können Sie uns ein Beispiel nennen, was ArcheMed bislang erreicht hat? 

Peter Schwidtal: Seit 2010 haben wir in vier großen Provinzen Projekte für Neugeborene umgesetzt. Früher sind 80 bis 90 % aller Problemfälle gestorben, heute überleben 80 %. 

WOLL: Ein toller Erfolg! Aber wie kommt das? 

Peter Schwidtal: Oft wurde sich nach Geburten zunächst nur um die Mütter gekümmert, dabei sind für Neugeborene drei Dinge besonders wichtig: Wärme, Sauerstoff und Hygiene. So kann man ein Auskühlen nach der Geburt oder eine Infektion verhindern. Und auch Gelbsucht ist mit dem nötigen Wissen gut in den Griff zu bekommen. Ich glaube tatsächlich, dieses Wissen, das wir dalassen, ist der größte Schatz. 

WOLL: Man merkt, dass Sie mit ganzem Herzen dabei sind! 

Peter Schwidtal: Es macht auch viel Freude, zu helfen. Vor allem, weil man dort nicht diesen ganzen Behördenwahnsinn hat. Dort kann man noch einfach Medizin machen. 

WOLL: Wie viel kostet denn so eine Mission? 

Peter Schwidtal: Wir arbeiten überwiegend ehrenamtlich. Bei einer Herz-OP-Mission operieren wir durchschnittlich 25 Kinder, das sind insgesamt 75.000 Euro, also 3.000 Euro pro Kind. In Deutschland würde eine solche Operation 20.000  bis 60.000 Euro kosten.  

WOLL: Und ohne Hilfe wären all diese Operationen nach wie vor nicht möglich. 

Peter Schwidtal: So ist es. Mein dritter Sohn kam 1997 zur Welt. Nach der Geburt stellte er auf einmal, ohne ersichtlichen Grund, die Atmung ein. Er wurde dann in Lippstadt auf der Neugeborenenintensivstation eine Woche lang beatmet. Er hat das Ganze folgenlos überstanden – in Eritrea wäre eine solche Komplikation wohl sein Todesurteil gewesen. 

WOLL: Dann sehen Sie es auch als Ihre persönliche Aufgabe an, den Menschen dort zu helfen? 

Peter Schwidtal: Wenn man es so gut getroffen hat wie wir, denke ich, ist es auch eine Verpflichtung. Die Menschen dort lieben ihre Kinder genauso, wie wir unsere. Was kann ich dafür, dass ich in der Bundesrepublik Deutschland geboren bin und nicht in Eritrea?