„Wir wussten nicht, ob wir leben oder sterben würden.“

Erinnerungen von Maria Jacobs an das Kriegsende in Oberkirchen

Wenn Maria Jacobs von den letzten Kriegstagen im Sauerland erzählt, ist es, als öffne sich ein Fenster in eine andere Zeit. „Ich war zwölf Jahre alt und wir wussten nicht, ob wir leben oder sterben würden.“ Heute ist sie 93 und blickt mit bemerkenswerter Klarheit auf den Frühling 1945 zurück. Im Gespräch mit dem WOLL-Magazin erzählt die heute in Niederhenneborn lebende Bauersfrau vom Fliegerangriff, von Sirenen und Schutzräumen, aber auch von Menschlichkeit, Zusammenhalt und der Hoffnung, die sich selbst in dunklen Zeiten nicht unterkriegen ließ. Geboren wurde Maria Jacobs als Maria Gilsbach in Oberkirchen bei Schmallenberg, einem Ort, der in den letzten Kriegstagen hart umkämpft war.

Der Krieg kommt näher

In der Karwoche 1945 ist klar: Der Krieg ist nicht mehr weit. Amerikanische Flugzeuge werfen Flugblätter ab, auf denen steht: „Honsel im Loch, wir finden dich doch.“ Die HonselWerke in Meschede, Hersteller von Munition und Kriegsgerät, sind Ziel von Luftangriffen. „Ich erinnere mich, wie die Tiefflieger aus Richtung Meschede kommend über Oberkirchen hin zum Albrechtsplatz drehten und dann wieder auf Meschede zusteuerten“, erzählt Maria Jacobs mit fester Stimme. Und noch eine andere Geschichte hat sich im Gedächtnis eingebrannt: Als ein amerikanischer Bomber über Oberkirchen abstürzt, sehen Maria und ihre vier Schwestern das brennende Wrack vom Schlafzimmerfenster aus. Aus Kriegsgeschehen wird plötzlich ein persönliches Erlebnis. „Wir fünf Mädchen waren im Schlafzimmer unserer Eltern und konnten aus dem Fenster sehen, wie das Flugzeug abstürzte und wie es sofort hellauf brannte. Wir hörten schreckliche Hilfeschreie. Dann plötzlich war es still.“ Die Soldaten wurden auf dem Oberkirchener Friedhof bestattet. Das Grab wird bis heute gepflegt. Hin und wieder kommen Angehörige aus den USA und besuchen die Grabstätte.

Nachdenklich schildert Maria Jacobs die Kämpfe rund um Karfreitag, am 30. März 1945. Oberkirchen wechselte in einer Nacht gleich dreimal den Besitzer. Deutsche und amerikanische Truppen rückten abwechselnd in den Ort ein und wurden wieder zurückgedrängt. „In unserem Haus, direkt gegenüber vom Gasthof Schütte, verschanzten sich deutsche Soldaten im Obergeschoss. Ein amerikanischer Panzer zielte auf das Gebäude“. Nur ein glücklicher Zufall verhindert die völlige Zerstörung. Ein auf das Haus abgefeuertes Geschoss trifft die massive Steintreppe. Das Wohnzimmer wird stark beschädigt.

Wegen der andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen Familie Gilsbach und die Nachbarn in den Felsenkeller hinter dem Haus. Die hoch aufragende Felswand gibt ein Gefühl von Sicherheit, wenn die Sirenen heulen. Später flieht die junge Maria mit anderen jungen Leuten in eine für den Schutz der Bevölkerung hergerichtete Schiefergrube außerhalb des Dorfes. Eine Frau aus dem Dorf, die von einem Granatsplitter getroffen wurde, wird mitgenommen und verstirbt später in der Schiefergrube. „So etwas vergisst man nicht“, sagt Maria Jacobs leise.

Menschlichkeit im Krieg

Beeindruckend ist ihre Erinnerung, auch an Geschichten voller Menschlichkeit: An die Töchter der Familie Feldmann-Hömberg, die sich bei einem Granateneinschlag schutzsuchend in den Keller zurückgezogen hatten, ihre Körper mit Tüchern zwar schützen konnten, aber durch die Granatsplitter schwere Gesichtsverletzungen erlitten und von amerikanischen Soldaten zur Behandlung nach Marburg gebracht wurden, erinnert sie sich. Oder an Louis Pellu, einen französischen Kriegsgefangenen. Der hilft auf dem Hof der Familie Gilsbach. „Als sich alle Bewohner von Oberkirchen in den Schutzräumen aufhielten, hat er aufopferungsvoll das Melken der zurückgelassenen Kühe übernommen“, erinnert sie sich mit Dankbarkeit. Dank gilt auch einer ukrainischen Frau, die während des Krieges mit im Haus wohnt. Zutiefst bewegt spricht Maria Jacobs vom Tod ihres Bruders Heini, der am 20. April 1944 – ausgerechnet an Hitlers Geburtstag – an der Ostfront bei Opotschka in Russland fiel. Die Nachricht überbringt der Bürgermeister persönlich. „Der Didam kümmet“, sagt die Mutter auf Platt, als sie ihn die Dorfstraße hochkommen sieht. Er übergab ihrer Mutter den von der Wehrmacht ausgestellten Todesschein von Heini, auf dem geschrieben stand, dass es eine Ehre sei, als Soldat am Geburtstag des Führers sein Leben zu lassen. Diese Sätze hat sie nie vergessen können.

Nach Tagen der Ungewissheit kommt dann endlich die Nachricht: Die Amerikaner sind im Dorf. „Dann sind wir alle zurück ins Dorf. Das war wie ein Wunder. Der Krieg war vorbei.

Nach dem Krieg führte der Weg der jungen Oberkirchenerin ins benachbarte Niederhenneborn. Sie lernte den jungen Josef Jacobs aus Niederhenneborn kennen. Mit ihm gründete sie eine Familie und fand in Niederhenneborn eine neue Heimat. Trotz der Umbrüche jener Jahre, des Wiederaufbaus und des Verlusts vieler enger Angehöriger blieb sie stets eine Frau mit klaren Werten, großer Herzlichkeit und einem offenen Blick für das Wesentliche im Leben.

Heute, im stolzen Alter von 93 Jahren, ist Maria Jacobs eine lebendige Zeitzeugin, deren Erinnerungen weit mehr sind als persönliche Geschichte. „Als wenn es gestern gewesen wäre“, sagt sie. Dank ihrer Offenheit bleibt dieses Wissen für kommende Generationen, für unser kollektives Gedächtnis erhalten.

Es gibt sie, die Sauerländerinnen und Sauerländer, die auf einzigartige Weise Sauerländer Lebensart verkörpern. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen in lockerer Reihenfolge „Sauerländer Köpfe“ und ihre Geschichten aus allen möglichen Lebensbereichen vor.