Gut Glindfeld und die Jagd
38 Douglasien, über 120 Jahre alt und bis zu 63 Meter hoch. Das Gefühl, das man empfindet, wenn man hier steht und am Stamm emporblickt, lässt sich mit einem Wort auf den Punkt bringen: Ehrfurcht. Um Ehrfurcht ging es auch im Gespräch mit Dr. Sophia-Antonia und Jürgen Heller, die in direkter Nachbarschaft zu den Himmelssäulen leben: auf Gut Glindfeld.
Eigentlich bin ich gekommen, um mit Familie Heller ein lockeres Gespräch zum Thema Jagd und Wild zu führen. Doch direkt zu Beginn wird klar: lockere Gespräche über die Jagd sind selten. Viel Kritik und viele Vorurteile treffen aufeinander, wenn es darum geht, wie das Wild aus dem Wald auf den Teller kommt. Jagd, so lerne ich, ist auch nicht einfach nur Schießen – es geht um einen ganzheitlichen Blick auf unsere Umwelt.
Meditation auf hohem Niveau
Das Jagen ist eine Familientradition der Hellers – Gut Glindfeld und der Wald, das Wild, die Jagd, das alles ist schon seit Jahren und Jahrzehnten eng verknüpft. In heimischen Restaurants finden wir Wild vor allem in den Herbst- und Wintermonaten auf den Speisekarten. Für die Hellers ist es das ganze Jahr über ein Thema, vor allem seit sie einen eigenen Hofladen samt Metzger haben. Jedes Tier wird jetzt noch ganzheitlicher verwertet, viele Produkte werden direkt so verarbeitet, dass sie lange haltbar sind.
Sowieso ist es den Hellers wichtig zu betonen, dass zum Jagen mehr gehört als das Erlegen eines Tieres. „Man ist ja Jäger, weil man Naturliebhaber ist“, sagt Sophia- Antonia Heller. Ihr Mann fügt hinzu: „Das ist Meditation auf hohem Niveau. Ich kann da ja keine Zeitung lesen oder im Internet surfen.“ Also lauscht man der Stille und lässt die Gedanken durchs Dickicht streifen. Dazu gehört auch, die Natur zu beobachten, die lebendige und lärmende Stille des Waldes wahrzunehmen und sich an all dem Leben im Wald zu erfreuen.
All das Leben im Wald? Als Wanderer oder Radfahrer kann man sich durchaus fragen, wo denn all das tierische Leben im Wald stattfinden soll. Hin und wieder sieht man mal ein Reh, im ungünstigsten Fall, während es vor einem auf der Straße steht. Doch Wild im Forst beobachten? Das scheint selten geworden zu sein.
Seit Corona ist mehr los im Wald
Verwunderlich ist das nicht: In unseren Wäldern ist einiges los. In den letzten Jahren haben viele Menschen ihre Leidenschaft für die Natur (wieder-)gefunden. Wanderer, Biker, Motocross-Fahrer – sie alle tummeln sich im Wald. Die Coronakrise hat das noch verstärkt. Das bekommen natürlich auch Hirsche, Wildschweine & Co mit. Diese ziehen sich weiter zurück, sind mittlerweile verstärkt nachts unterwegs, im Schutz der Dunkelheit. Und so manch einer mag sich fragen: Brauchen wir die Jagd überhaupt noch, in Zeiten, in denen vegetarische und vegane Ernährung boomt, weil diese nachhaltiger und besser für die Umwelt sein soll?
„Wir stehen eher auf der Seite der Vegetarier.“
Nachhaltigkeit, Bio-Qualität, gesunde und hochwertige Lebensmittel sind gefragter denn je. Laut Informationen des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wurden 2020 so viele Bio-Frischeprodukte verkauft wie noch nie, der Konsum von Bio-Fleisch stieg um mehr als 50 Prozent. Auch die Hellers bemerken diesen Trend. Sie erzählen von Kunden, die sich abgesehen vom Wildfleisch komplett vegetarisch ernähren. Sie selbst halten es ähnlich und sagen: „Wir stehen eher auf der Seite der Vegetarier.“ Für manchen Vegetarier vielleicht eine zynische Aussage einer Jägersfamilie, und doch gewissermaßen nachvollziehbar. Denn mit der viel kritisierten Massentierhaltung und Qualzucht hat die Jagd nichts zu tun. Die Tiere wachsen in ihrer natürlichen Umgebung auf und können sich frei bewegen, fressen das, was sie in der Natur finden und werden beispielsweise nicht zum Zweck der Milchproduktion von ihren Jungen getrennt.
Ordentlich erlegtes und verarbeitetes Wildfleisch kann deswegen in Sachen Nachhaltigkeit eine gute Alternative sein zum Fleisch aus dem Supermarkt. Voraussetzung dabei sollte sein, dass das Tier nicht während einer Treiboder Drückjagd erlegt wurde, um ihm Stress zu ersparen. Das wäre einerseits eine unnötige Qual für die Tiere, andererseits verschlechtert es die Qualität des Fleisches. Auch das Handling des Tiers nach dem Erlegen ist entscheidend für die Qualität: Die Einhaltung der Kühlkette, die Beschau durch einen Tierarzt sowie das rechtzeitige Zerwirken.
Neben dem Bezug zur Natur ist Familie Hellers vor allem eines wichtig: der Respekt vor jedem einzelnen Tier. Und da ist sie dann wieder – die Ehrfurcht. Vielen Weidmännern ist es wichtig, schöne Traditionen der Jagd wie den „letzten Bissen“ zu wahren. Beim erlegten Tier einen Moment innehalten, den Moment zu spüren und schließlich dem Tier einen Zweig in den Mund legen. Für Außenstehende mag das befremdlich wirken, für Jagende ist es eine Form, Respekt zu zeigen. „Das sind wir dem Tier schuldig“, sagt Sophia-Antonia Heller. Der Bezug zum Leben und das Bewusstsein, das zur Bratwurst auf dem Grill eben auch ein totes Tier und nicht nur der Griff ins Kühlregal gehört – das wird wohl auf der Jagd so deutlich wie sonst kaum irgendwo.
Was die Jagd mit dem Borkenkäfer zu tun hat
Und dennoch bleibt die Frage: Brauchen wir Jäger? Mittlerweile gibt es zahlreiche pflanzliche Alternativen zu Fleisch, muss denn wirklich jeden Tag eine Wurst auf dem Teller landen? Nein, natürlich nicht, da stimmen auch die Hellers zu. Aber beim Jagen geht es um mehr als um die Fleischgewinnung. Es geht auch darum, das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten.
Als Sauerländer ist man den traurigen Blick auf tote Fichten leider gewohnt. Trockenheit und Borkenkäfer haben unseren Wäldern in den letzten Jahren enorm zugesetzt. Wo Wälder früher eine lukrative Einnahmequelle für Städte und Privatleute waren, verursachen sie heute hohe Kosten. Doch auf den Wald verzichten können und wollen wir nicht. Die Wiederaufforstung abgeholzter oder beschädigter Waldflächen steht in Deutschland sogar im Gesetz. Am Ende geht es dabei nicht nur um das Landschaftsbild, sondern auch um die Bindung von CO2 aus der Luft, um die Verringerung von Bodenerosionen und den Erhalt fruchtbarer, landwirtschaftlicher Flächen. Also wird auch im Sauerland unermüdlich aufgeforstet.
Doch zarte Sprösslinge und junge Bäume stehen bei unserem heimischen Wild ganz oben auf der Speisekarte. Gewissermaßen verständlich, doch laut Förstern und Jägern leider schädlich für die Aufforstung. Gatter und Zäune um Aufforstungsgebiete zu ziehen ist eine Lösung, die Pflanzen zu schützen. Doch der Wildbestand, der ursprünglich in diesem Gebiet lebte, verschwindet ja nicht einfach, sondern lebt im übrigen Waldgebiet weiter. Dadurch dass es bei uns keine Wölfe und Bären mehr gibt, hat das Wild keine natürlichen Feinde und reguliert sich nicht selbst – zumindest nicht in dem Maß, in dem es nötig wäre, um unsere Wälder gesund zu erhalten, so die Erklärung von Jägern und Förstern. Die zentrale Aufgabe des Jägers lautet daher, den Wildbestand zu regulieren und eine Überpopulation zu vermeiden. Was viele Nicht-Jäger nicht wissen: Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass derzeit ungewöhnlich viel Wild in unseren Wäldern unterwegs ist. Denn die Hauptabnehmer der Jäger sind Restaurants – und die waren lange Zeit geschlossen.
Zwischen Tradition und Moderne
Um die Zukunft scheint sich das Weidwerk derzeit keine Sorgen machen zu müssen. Technische Weiterentwicklungen bei der Ausrüstung, Klimakrise und ein sich veränderndes Verständnis von Jagd treiben den Wandel voran. Der Wandel, der kommt auch immer mit den jüngeren Generationen. Ein Nachwuchsproblem hat das Jägerhandwerk nicht. Derzeit entscheiden sich laut Familie Heller außergewöhnlich viele junge Menschen, einen Jagdschein zu machen, darunter auch einige, die keinen familiären Bezug zur Jagd haben, so wie es früher oft der Fall war. Nachhaltigkeit, gesunde Ernährung und die neue Perspektive auf den heimischen Wald spielen da oft eine wichtige Rolle, denn: „Mehr Bio geht nicht.“
„Gute Traditionen zu retten ist wichtig. Aber nichts ist beständiger als der Wandel, das muss man akzeptieren und da muss man auch loslassen können. Traditionen sind gut, aber vieles passt nicht mehr in die heutige Welt“, erklärt Jürgen Heller. Ihm ist es wichtig, mit Klischees rund um die Jagd aufzuräumen. Die Herrschaft ruft zur Jagd – so ist es heute in der Regel nicht mehr, die Jagd ist kein „Altherren-Verein“ mehr, es geht um etwas anderes als um die Trophäe über dem Kaminsims.
Zum Schluss
Und ich? Ich habe gemerkt, dass ein lockeres Gespräch über die Jagd tatsächlich nicht so einfach ist. Was mir persönlich verdeutlicht wurde, war die unterschiedliche Bedeutung des einzelnen Tiers auf der Jagd und in der konventionellen Landwirtschaft – ganz gleich, was nun jeder einzelner von der Jagd selbst halten mag.
Ich habe viel gelernt an diesem sonnigen Oktobertag. Sicher würde ich ebenso viel lernen, wenn ich mich mit einem Förster, einem Jagdgegner oder einem Landwirt unterhalte, daran habe ich keine Zweifel. Und wer weiß, vielleicht mache ich das beim nächsten Mal – so ganz locker.