Weihnachtsgeschichte: Die gute Fee vom Wilzenberg

Quelle: Klaus-Peter Kappest

Droben auf dem Wilzenberg lebte einst eine gute Fee, die den Schnee liebte. Alljährlich zur Weihnachtszeit zog es sie ins untere Tal. Einen Tag vor Heiligabend im Morgengrauen bei leisem rieselndem Schnee wagte sie sich aus ihrem gemütlichen Heim, dem Püttgen, und vollführte eine Pirouette. In Sekundenschnelle verwandelte sich das kleine Lichtwesen in eine hochgewachsene Frau mit lockigem, goldenem und von grünen Strähnen durchzogenem Haar, gekleidet in ein rotes Gewand mit warmen Winterstiefeln an den Füßen, einem silbernen Degen in einer Lederschnalle befestigt und einem Rucksack aus feinster Jute auf dem Rücken.

Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen mit jedem Schritt den beschwerlichen steinigen Weg hinunter vom Wilzenberg. Ihre Füße schmerzten nach einer Weile und so nahm sie auf einem Felsen Platz, um sich auszuruhen. Im Augenwinkel bemerkte sie ein Funkeln, blickte in die Richtung, aus der es kam, und folgte ihm. Es führte sie in einen finsteren Gang, an dessen Ende eine Höhle golden erhellt wurde.

„Bleib fern!“, hörte sie eine warnende Stimme. Doch sie ignorierte sie kopfschüttelnd. Im nächsten Moment versperrte ihr ein riesiger Ritter von zwei Mannshöhen mit einem Schwert im Anschlag den Weg.

„Lasst mich durch, Graf von Grascap! Die Menschen in Grafschaft leiden, gebt mir Euren Raubschatz mit dem Gold“, forderte die Fee ihn und zog ihren Degen hervor.

Unerwartet erwischte sie ein Schwerthieb, der sie zu Boden riss. Die nächste Attacke wehrte sie mit ihrem Degen ab, sprang zur Seite und verpasste dem Ritter einen Stich in die Schulter. Er lachte nur lauthals über diesen Hieb und setzte zum nächsten Angriff an.

„Chunzia!“, rief die Fee und der Ritter zuckte zusammen.

„Chunzia… Chunzia, dieser Name verheißt nichts Gutes. Diese Edeldame, oder eher Hexe, hat sieben Mannen auf dem Gewissen …“, erinnerte er sich, während er sein Schwert erneut hob. Da entstieg dem Rucksack der Fee ein Engelein.

„Graf von Grascap, als ich nach Nordenau floh, vergaß ich dich, doch nun hole ich dich! Ich bin es, Chunzia“, donnerte die Stimme des Engels und sprach grell einige lateinische Worte. Der Ritter verwandelte sich in eine Statue aus Stein.

Die Fee schnappte sich den Goldschatz, packte ihn mit Chunzias Hilfe in ihren Rucksack und setzte ihren Weg fort. Nach langem Fußmarsch kam sie über eine geschwungene Straße an den ersten Häusern der Gemeinde Grafschaft vorbei und dann ins Dorfzentrum. Sie vernahm das Glockengeläut der Kirche. Einige Menschen huschten wortlos und traurig dreinblickend an ihr vorbei und begannen mit ihrem Tagwerk. Die Inflation hatte die Menschen in Bitterkeit verfallen lassen, drum herrschte nirgends Fröhlichkeit. Der Anblick der Häuser, die weder geschmückt noch feierlich erleuchtet waren, erschütterte die Fee in ihrem tiefsten Inneren. 

Plötzlich saß Chunzia auf ihrer Schulter. Der Himmel verfinsterte sich, Blitze zuckten und ein aufkommender Wirbelsturm umhüllte in diesem Moment den Wilzenberg. Männer, Frauen und Kinder flohen angsterfüllt zurück in ihre Behausungen.

„Chunzia, da bist du ja, mein tapferes Helferlein“, begrüßte die Fee ihre Dienerin.

„Ich bin stets gern zu Diensten, meine geliebte Herrin. Welche Aufgabe wird mir heut zuteil?“, sprach Chunzia ehrfürchtig.

„Du bist für die Menschen unsichtbar. Einst warst du jedoch eine gefürchtete Gräfin, die sieben schreckliche Taten beging. Drum tu nun Buße und schenke den Grafschaftern ein unvergessliches Erlebnis in der Nacht zu Heiligabend. Husch, husch, ab mit dir!“, befahl die Fee, die zugleich pfeifend ein Weihnachtslied anstimmte.

Die Grafschafter lauschten dem Lied. Auf manche Gesichter zauberte es ein verschmitztes Lächeln. Ihre magischen Kräfte nutzend, errichtete sie eine riesige Nordmanntanne auf dem Marktplatz. Chunzia vollführte währenddessen einen wilden Lufttanz auf dem Wilzenbergturm und entzog den Blitzen und dem Wirbelsturm all ihre Energie.

Zurück in Grafschaft hockte sie wieder auf der Schulter der Fee. Gemeinsam schmückten sie die Nordmanntanne und brachten sie zum Leuchten. Das Schauspiel entzückte immer mehr Grafschafter, die sich aus ihren Häusern wagten und fröhlich singend begannen, diese zu schmücken. Bäcker, Handwerker, Schneider und Handelsleute bauten ihre Stände auf. Die Fee lächelte ihnen zu und gab Chunzia damit ein Zeichen.

Das Engelein flatterte hinüber zur Christbaumspitze, schwebte eine Weile darüber und drehte erst langsam, dann fortlaufend schneller Pirouetten. Bei der siebten und letzten Drehung wurde sie für die Menschen sichtbar. Die wichen zunächst zurück. In der nächsten Minute versammelten sie sich jedoch rund um den Christbaum. Chunzia landete mit ihren Füßchen sanft auf der Baumspitze und wurde zu einem gläsernen Engel aus purem Bergkristall, der in allen Farben der Welt funkelte.

„Jetzt bist du frei, Chunzia, und hast deine Lebensaufgabe erfüllt“, verabschiedete sich die gute Fee und trällerte unter Freudentränen ein Weihnachtslied. Die verließ das fröhliche Grafschaft, jedoch nicht, ohne vorher jedem Bürger drei Goldmünzen zu schenken, und verschwand in ihrem Püttgen auf dem Wilzenberg.


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