Was „meine“ Bücher sich erzählen

Samstags mitgehört in der Büchergarage Ostentrop

Ein Wintertag in Ostentrop, einem kleinen Örtchen in der Gemeinde Finnentrop. Eisig regiert der Frost, Schnee knirscht unter Schuhsohlen und Autoreifen. Meine Büchergarage ist wie immer geöffnet, weil es in Ermangelung eines Tores gar nicht anders geht. Dieser Buchladen ist schon sehr skurril. Unsortierte Bücherhaufen trotzen notdürftig der Schwerkraft. Ein Gast hat das Gesamtgewicht der Bücher auf gute zwei Tonnen beziffert. Zahlen muss man für die Ware nicht. Man nimmt mit, was man mag. Schließlich wurden die Bücher der Garage ja auch kostenlos überlassen. Die Familienkutsche muss draußen frieren.

Im ganzen Frettertal hat sich die Kunde vom Umschlagplatz guter Literatur herumgesprochen: Sachbücher, Humor, Regionalia, dicke Bücher, dünne Bücher, lustige Bücher, ernste Bücher, Taschenbücher und dicke Einbände, Altes und Frisches: Ich wüsste gerade nichts, was es bei mir nicht gäbe. Spaziergänger planen ihre Routen an meiner Garage vorbei. Ein Insidertipp ist sie nicht mehr. Im Wochentakt stehen neue Kisten im Eingangsbereich. Samstags sortiere ich. Diese Art von „Bücherschrank“ ist meines Wissens einzigartig und mir gleichermaßen Freude und Last. Einerseits fühle ich mich als Held der Bücher, andererseits wie Sisyphos, der bananenkistenweise papierne Ware sortieren muss. Weil ich Bücher liebe und einer der Menschen bin, die kaum ein Buch wegewerfen können, schaue ich in jeder neuen Stadt mittels einer App namens „Buchschrankfinder“ zunächst nach öffentlichen Bücherschränken. Hier entledigt man sich seiner Bücher, und der Grat zwischen „entsorgen“ und „der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen“ ist schmal. Über das gesamte Sauerland verteilt finden sich Bücherschränke, und die meisten von ihnen sind mir bekannt.

Stefan Schröder hat eine Büchergarage in Ostentrop

Wenn ich dann samstags so hier rumfentere, in meinem eigenen, begehbaren Bücherschrank, stelle ich mir manchmal vor, die Bücher redeten miteinander. Das Rascheln der Seiten im Wind ist Kommunikation; „versehentliches“ Fallen ein Ruf nach Aufmerksamkeit. Ich habe mich einmal still dazugesetzt und notiert, was sich die Exemplare so erzählen.

Gespräch im Bücherschrank

Das Gespräch eröffnet ein Kriminalroman namens „Das Ende des Schweigens“ einer gewissen Claudia Rikl: „He, Leute, ich bin ein Debüt! Der WDR ist ganz begeistert von mir.“ Es raunt aus der Ken Follett-Ecke: „Naja, wenn du wirklich so prickelnd wärest, hätte man dich sicher nicht hierher gebracht.“ Empörung bei den Ratgebern: „Das klingt sehr verletzend. Ich bin froh, hier zu sein. Stellt euch vor, monatelang stand ich in Drolshagen zwischen lauter vergilbter Theologie. Und wer nach uns greifen wollte, bekam erstmal eins auf die Rübe, weil die Klappen nach oben aufgehen.“

„Das kenne ich, das kenne ich! Wie in Neu-Listernohl! Ihr müsst wissen, von dort komme ich, mit Zwischenstation bei einem Ehepaar kurz nach der Silberhochzeit“, meldet sich ein Sachbuch namens „Spaß an der Treue. Freude am Sex mit einem Partner“. „Nachdem sie mich gelesen hatten, ging das Gestöhne los, und schließlich brachte man mich hierher. Die stöhnen wahrscheinlich noch immer …“ „Ich stöhne bloß unter dem elenden Gewicht hier!“, ruft ein Simenon-Roman dazwischen, „da war es am Bahnhof in Altenhundem viel ruhiger. Wir standen in Reih und Glied, und ab und an kamen resolute Damen, um uns zu sortieren und mit Stempeln zu versehen.“ „Ich weiß, ich weiß, das machen die, um den Wiederverkauf zu vermeiden“, raschelt ein Fitzek von irgendwoher, „in Frenkhausen machen die das nicht. Stattdessen steht man in einer alten Telefonzelle, einer englischen, wohlgemerkt.“ „Telefonzellen, ach, das ist ein alter Hut. In Köttenolpe haben die das auch“, wirft ein „Was ist Was“-Buch ein, passenderweise über Elektronik. „Und in Wennemen!“, bölkt es aus den Konsaliks.

Geheimnisvoll gibt ein Uta Danella-Schinken zu Gehör: „Sehr cool soll es im echten Olpe in der Berufsschule sein, hohe Fluktuation, junge Menschen, gute Gesellschaft. Nicht bloß diese ollen Reader‘s Digest-Sammlungen, auf die die heute etwas Älteren so stolz sind …“ „Und dann wundern sie sich, wenn ich ihnen sage, dass die gar nichts mehr wert sind“, bin ich versucht dazwischenzugrätschen. Doch ich halte mich zurück. Der Rikl-Krimi dreht wieder auf: „Ich bin bestimmt beliebt. Viele legen alte Bücher auch aus Platzgründen weg oder sogar wegen ihrer sozialen Ader. Mit meinem guten Inhalt hat es nun wirklich nichts zu tun, dass ich jetzt nicht in einer warmen Wohnung stehe.“ „Bah, bild dir mal ja nichts ein“, brummt ein leicht eselsohriger Noah Gordon. „Ich stehe hier schon seit Monaten, aber alles stürzt sich bloß auf diesen historischen Kram.“

„Die Kelten? Die Assyrer?!“, kommt es von einer Etage höher aus der Geschichtsabteilung. „Nein“, stöhnt die Albert Einstein-Biograe, „so was Unlogisches, Ausgedachtes. Die heißen dann ‚Schwert und Feuer‘ oder ‚Die Wanderhure kehrt zurück‘. Echt Firlefanz, wenn du mich fragst.“ „Frag mich mal. Ich stand lange in der neuen Lesefutterkiste in Finnentrop“, erläutert etwas altklug ein Astrid Lindgren-Kinderbuch. „Anstatt zu mir griffen die Leute dort zu all diesen Küstenkrimis. Schrullige Ermittler suchen Leichen im Schilf und fragen eigenartige Dorfgemeinschaften aus.

Schrecklich!“ „Regional kommt halt gut an!“, ereifert sich ein Schwarzwald-Krimi aus dem entsprechendem Fach. „Das ist auch in Sundern so. Da steht ein Schrank direkt neben der Kirche. Leider schlagen andauernd irgendwelche Idioten die Scheiben ein.“ „In Meschede“, will der Gordon gehört haben, „wurde der Schrank am Henneufer wegen Vandalismus sogar zurückgebaut.“ Kichernd fügt er hinzu: „Es soll sogar mal jemand reingekackt haben.“

„Gar nicht komisch“, denke ich mir, der hier seinen Waisen-, Findel- und Übergangskindern zuhört. „Eine Frechheit ist das, wenn einer sowas macht. Noch blöder ist es, wenn man dann als Betreiber aufgibt und den Dummen den öffentlichen Raum überlässt. Doch ich habe gut reden, in Ostentrop scheint die Welt noch in Ordnung. Ein Auto hält, ein bekanntes Gesicht steigt aus. Ich weiß, was sie sucht. Meine Bücher nicht. „Ruhe jetzt!“, brüllt der Simenon, „Putzt euch raus, ein neues Zuhause wartet!“

Öffentliche Bücherschränke sind „third spaces“, würde ein Stadtplaner nun sagen. Sie verschaffen dem Buch als Medium und Einzelstück weitere Lebenszyklen und sorgen in den Orten, in denen sie stehen, für einen belebenden Höhepunkt. Es muss ja nicht gerade so ein eigenartiger Krämerladen sein wie meiner. Kleine, liebevoll kuratierte, gern metallene, wasserfeste Schränke wie der besagte in Lennestadt oder Wenholthausen passen ebenfalls. Ich klappe mein Büchlein zu und beschließe, einen WOLL-Artikel über meine Erfahrungen zu schreiben.

Bücherschränke im Sauerland

Berufskolleg des Kreises Olpe
Im Foyer des Berufskollegs des Kreises Olpe, Kurfürst-Heinrich-Straße 34, warten in einem gut sortierten Bücherschrank nahe des Snackautomaten durchgehend gute Sachbücher und Romane.

Neu-Listernohl
In einem etwas umständlich zu handhabenden selbstgezimmerten Schrank mit sechs Klappen mitten auf dem Dorfplatz findet man dies und das und Ananas und manchmal eine Perle.

Finnentrop
Die Lese-Futter-Kiste des DRK, Theodor-Fontane Straße 24, betreut vom Autor dieser Zeilen, ist der jüngste Bücherschrank dieser Liste. Das Angebot variiert von gut erhaltenen Taschenbüchern bis hin zu Sachbüchern, wobei großer Wert auf die Kinderbuchabteilung gelegt wird.

Ostentrop
Die ebenfalls vom Autor dieser Zeilen betreute Büchergarage im Falker 32 beherbergt aktuell geschätzte zwei Gewichtstonnen an guter und schlechter Sach- und fiktionaler Literatur.

Drolshagen
Der Bücherschrank auf dem Marktplatz befindet sich in einem verbesserungswürdigen Zustand. Die unpraktischen Klappen verleiden den Spaß am Büchertausch, wenngleich der Inhalt sehr abwechslungsreich ist.

Wenden
Am Rathausvorplatz steht eine gut sortierte, wetterdichte und praktisch zu öffnende Büchersäule, in der durchaus mal ein Schätzchen vorzufinden sein kann.

Wenholthausen
Gut sortierte und quantitativ wie qualitativ stets gut ausgestattete, gesponserte, metallene Büchersäule mit beidseitig magnetischen Türen. Direkt an der Hauptstraße im Ortskern gelegen.

Arnsberg, Altstadt
Ein Bücherschrank, der im Zusammenspiel mit dem Standort durchaus gefällt. Gegenüber befindet sich noch eine echte, gute, kettenfreie Buchhandlung.

Herdringen
Direkt an der Kirche gelegen und vielleicht daher oft mit erbaulicher theologischer Literatur bestückt. Aber auch Science Fiction und Ratgeber wurden bereits gesichtet.

Olpe
In diesem Falle das „Köttenolpe“ bei Freienohl. Hier befindet sich eine alte Telefonzelle in durchgängiger Belagerung von Literatur. Allerdings ist die Frequentierung spürbar gering und der Bestand entsprechend schon älter.

Frenkhausen
Mitten im Ortskern an der Kirche gelegen, erweist sich diese alte rote Telefonzelle oft als wahre Fundgrube.

Wennemen
Am Sauerlandradring halten und schmökern? Ja, das geht an dieser umfunktionierten Telefonzelle durchaus.

Endorf
Gesponserte, wunderbar wetterdichte, metallene Büchersäule mit magnetischen Türen und meist sehr jungem, frischen Bestand.

Lennestadt
Einer der ersten Bücherschränke des Sauerlandes, direkt am Bahnhof, kuratiert und Bestand bestempelt vom Arbeitskreis „gelesen!“.

Sundern
Wieder Ortskern, wieder direkt an der Johannes-Kirche, eine umgewidmete Telefonzelle mit manchmal leider eingeschlagener Scheibe. Beschriftete Rubriken, vielseitig sortiert.

Schmallenberg
Das gute, alte „Klöneck“ an der Oststraße 7. Wäre durchaus mal eine eigene WOLL-Story wert. Klein, gemütlich, gut sortiert und mit einer Sitzecke als Geheimtipp!

Nordenau
An der Astenstraße 10 gibt‘s einen gesponserten Bücherschrank.

Oeventrop
An der „Literaturzelle“ in der Kirchstraße 56 geht‘s kunterbunt zu!

Wennigloh
An der Schützenhalle gibt‘s einen begehbaren Schatz mit dauernd wechselndem Angebot.

Arnsberg
Der „Bücherschrank am Bürgerzentrum“ ist ein echter Geheimtipp. Nach diesen Zeilen wohl nicht mehr.