Was ändert sich mit der vierten Welle? – Clusterbildung, Selbstregulation und Ausbreitung in der Pandemie

Coronavirus

Quelle: Pixabay

Ein aktualisierter Beitrag von Gerhard Scheuch, Thomas Voshaar und Dieter Köhler 

„In der Arbeit vor Ort, ob in der Arztpraxis oder im Krankenhaus, erleben viele Kolleginnen und Kollegen täglich die Verwirrung über das richtige Verhalten oder die Hygienemaßnahmen in der Coronapandemie. Viele wissen nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Die komplizierten und sich ständig ändernden Rechtsverordnungen verstärken noch die Unsicherheit, aber auch die Angst etwas falsch zu machen.“ Das teilte uns Prof. Dr. Dieter Köhler, der frühere Leiter des Fachkrankenhauses in einer Presseinformation mit.  Weiter: „Erklärt man aber den Patienten die Hintergründe beziehungsweise die relevanten Verhaltensmaßregeln, verschwindet oft die Angst: Aufklärung ist die beste Medizin, damit die Menschen mit dieser schwierigen Situation umgehen können.“

Deswegen veröffentlicht WOLL heute diesen aktualisierten Beitrag über das Ausbreitungsverhalten des Virus unter dem Titel „Was ändert sich mit der vierten Welle? Clusterbildung, Selbstregulation und Ausbreitung in der Pandemie.“ Prof. Köhler hofft, dass nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes über die Bundesnotlage die politische Diskussion versachlicht wird. Wörtlich: „ Zudem bieten uns wissenschaftliche Erkenntnisse für die kommenden Wochen und Monate einen großen Nutzen im Alltag: Sie machen bei einer konsequenten Umsetzung unser aller Leben einfacher, ohne zusätzliche Risiken eingehen zu müssen.“ 

Gerhard Scheuch, Thomas Voshaar und Dieter Köhler 

Wir sind mitten in der vierten Welle und die Handlungsmuster wiederholen sich. Es werden praktisch über Nacht neue Maßnahmen eingeführt wie das Boostern aller Erwachsenen über 18 Jahre. Oder gleich eine Impfpflicht als Königsweg aus der Pandemie diskutiert, trotz der täglichen Probleme beim Nachimpfen von selbst besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Das Land droht in diesem Herbst und Winter erneut im Chaos zu versinken mit einer überforderten Politik und einer zutiefst verunsicherten Bevölkerung. 

Dieter Köhler
Prof. Dr. Dieter Köhler Foto: Klaus-Peter Kappest

Dabei gilt weiterhin, was die Autoren dieses Artikels schon im Frühjahr dieses Jahres als Gastbeitrag in der NZZ formuliert hatten: Noch nie hatten wir so viele wissenschaftliche und statistische Daten über eine Pandemie, einschließlich Daten aus verschiedenen Ländern mit vergleichbarer Infrastruktur. Fast alle Industrienationen haben mit ähnlichen Maßnahmen auf die Bedrohung reagiert. Meist wurde ein mehr oder weniger strenger Lockdown beschlossen, begleitet von Schutzmaßnahmen wie dem Tragen von Masken und Abstandsgeboten. Auf den ersten Blick meint man, eine positive Wirkung eines Lockdowns auf die Infektionszahlen zu erkennen. Bei näherer Betrachtung gibt es aber viel Ungereimtes. 

So zeigt eine nähere Betrachtung der Daten zur Infektionsausbreitung erstaunlicherweise, dass häufig schon vor dem Beginn einer Intervention die Infektionszahlen zurückgehen. Umgekehrt ist das auch so, denn bei Beendigung des Lockdowns müssten sie nach ein paar Tagen eigentlich wieder ansteigen, was oft aber nicht passiert. So bei uns in Deutschland nach dem 11. Mai 2020. Es gab zwar noch Infektionen im Land, aber die Aufhebung des Lockdowns ließ die Infektionen nicht mehr ansteigen. Die sommerlichen Temperaturen waren wohl der Grund für diesen Effekt. Mit dem Ende des Sommers und den zunehmenden Aufenthalten in Innenräumen ging es aber wieder los. 

Besonders auffällig sind die Ungereimtheiten, wenn Daten mit ungefähr gleichen Bevölkerungszahlen und ähnlicher geographischer und sozioökonomischer Struktur verglichen werden. Zum Beispiel North Dakota und South Dakota in den USA. South Dakota hatte so gut wie keine Einschränkungen mit offenen Schulen und Restaurants. North Dakota hatte Maskenpflicht und andere Restriktionen. Die Infektionszahlen im Spätherbst 2020 sind aber nahezu deckungsgleich im Zeitverlauf und in der Häufigkeit. Interessanterweise sind ähnliche Muster bei früheren Viruspandemien ebenfalls zu beobachten gewesen. Viele solcher Phänomene finden sich in dem Blog von Zack (https://frankfurtzack.medium.com/warum-lockdowns-nicht-so-wirken-wie-gedacht-9a92c093d361) klug zusammengefasst. 

Rein epidemiologische Studien helfen nicht weiter; sie können nur bei der Hypothesenerstellung helfen. Konklusive Aussagen aus rein epidemiologischen Daten stiften oft Verwirrung, weil deren Beobachtungen keine kausalen Zusammenhänge aufdecken können, es aber so erscheinen lassen. 

Mit anderen Worten: Es fehlt bisher eine vernünftige überprüfbare Hypothese, die das Auf und Ab des Pandemiegeschehens erklärt. Die Autoren möchten hier mit einer Vermutung einen Beitrag leisten. 

Die Infektionskurven folgen fast regelmäßig chaotischen Mustern, insbesondere wenn man die Häufigkeiten auf die Bundesländer oder die einzelnen Regionen herunterbricht. Hier einige Beispiele vom 16.11.2021: Es fallen die jeder einfachen Erklärung widersprechenden Inzidenzen in verschiedenen Landkreisen auf (https://www.corona-in-zahlen.de/landkreise/ ). 

So hatte der Landkreis Berchtesgadener Land schon seit Oktober 2020 Inzidenzen von über 100 und erreicht in diesen Tagen sogar wieder Werte deutlich über 1000 (d. h. 1000 Neuerkrankungen/100.000 Einwohner). 

Quelle: Köhler

Im Kreis Lüneburg zeigt sich ein völlig anderes Bild. Dort wurden nahezu nie Inzidenzen deutlich über 100/100.000 gefunden. Und auch am 16.11.2021 sind die Werte deutlich unter diesem Wert (Bitte andere Maßstab der Y-Achse beachten). 

Und selbst in Bayern gibt es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Kreisen. So hat Amberg am 15.11. Inzidenzen von knapp 200, während Rottall-Inn deutlich über 1300 liegt. 

Chaotische Systeme bezeichnen eine Unvorhersagbarkeit von Ereignissen, wie sie vom Wetter bekannt sind, das nur eine begrenzte Zeit vorhergesagt werden kann. Es ist zu komplex und von zu vielen Einflussfaktoren abhängig. In chaotischen Systemen führen zwar gleiche Anfangsbedingungen zu gleichen Ergebnissen, allerdings können bereits kleinste Änderungen der Anfangs- oder Randbedingungen große Veränderungen des Ergebnisses nach sich ziehen können. 

Die Ähnlichkeiten der Infektionsausbreitung mit chaotischen Mustern hilft allein noch wenig weiter, erklärt auch noch nicht die Unterschiede zwischen den beiden amerikanischen Bundesstaaten und den verschiedenen Landkreisen. Es muss zusätzlich eine Gegenregulation im Infektionsgeschehen berücksichtigt werden. Was ist damit gemeint? Rückkopplungen bzw. Verhaltensänderungen entstehen in Gruppen, wenn sie von außen Gefahren ausgesetzt werden. Je enger der Kontakt, umso stärker die Gegenregulation, um das Cluster zu stabilisieren. Solche selbstregulierenden Systeme werden in der Biologie auch als Schwarm bezeichnet. Ein bekanntes Beispiel sind die Vogelschwarmbildungen und deren Bewegungen. 

Kommt es also in diesen kleinen Clustern oder Strukturen zu einer Infektion, führt das sofort zu Verhaltensänderungen der anderen Mitglieder. Je mehr sich infizieren und je schwerer sie krank werden, umso stärker sind die Reaktionen. Solche Cluster können Familien aber auch Nachbarschaften und Dörfern sein, Arbeitsplätze, Pflegeheime und Krankenhäuser. Die Gruppe reagiert mit verschärften Kontakteinschränkungen und Hygienemaßnahmen, die obwohl bekannt, vorher oft kaum genutzt wurden. Sie tragen plötzlich ihre Masken, halten Abstand und reduzieren die Kontakte. Dadurch geht das Infektionsgeschehen in diesem Cluster zurück. 

Die Daten sprechen für die Hypothese, dass das Pandemiegeschehen hauptsächlich von diesen einzelnen Clustern bestimmt wird. Gerade in den Milieus, wo sich etwa aus sprachlichen Gründen andere Mediensysteme als in der Mehrheitsgesellschaft etabliert haben, sind häufiger Cluster zu finden, wie Erfahrungen aus der Intensivmedizin gezeigt hat. Hier gibt es nicht selten Kommunikationsbarrieren, weswegen dort eine besondere Sorgfalts- bzw. Betreuungspflicht für den Staat besteht. Durch die Gegensteuerung bei einem Ausbruch in einer Gruppe oder Cluster wird die Infektionsausbreitung bereits dort oft gebremst oder sogar eingedämmt. Die Konsequenz ist, dass große Lockdown-Maßnahmen zumeist an der Realität vorbeigehen, zu spät kommen oder der erhoffte Effekt nicht eintritt. So waren beispielsweise im vergangenen Frühjahr in Spanien extrem harte Lockdown-Maßnahmen verhängt worden, inklusive einer streng kontrollierten Ausgangssperre; die Infektionszahlen sanken aber erst Wochen später mit dem wärmeren Wetter. Lockdown-Maßnahmen werden zudem auch nicht in allen Clustern wegen ihrer Unterschiedlichkeit gleich wirksam sein können. 

Interessant zu beobachten ist auch, dass die Kurvenverläufe nie den Berechnungen der Epidemiologen folgen und bestimmte Maßnahmen zu einer erwarteten Abflachung der Kurve führen. Sondern ab einem bestimmten nicht vorhersagbaren Punkt, geht die Steigung sofort und fast schlagartig in einen Abwärtstrend des Kurvenverlaufes über. 

Was können wir daraus lernen? 

1.) Man braucht keine bundesweiten Lockdowns, sondern die Maßnahmen müssen lokal organisiert, angepasst und umgesetzt werden. 

2.) Die Leute brauchen einige wenige aber klare und plausible Handlungsanweisungen, die sie vor Ort selbst umsetzen können, wenn die Infektionszahlen steigen 

3.) Man kann und sollte landkreisweise Ampelsysteme einführen. 

4.) Zum Schluss noch unser wichtigster Punkt: Wir benötigen eine offene und klare Kommunikation ohne Drohungen. Stattdessen sollten wir Perspektiven für eine effektive Pandemiebekämpfung aufzeigen – und auf das Schüren irrationaler Ängste verzichten. Plausible Handlungsanweisungen appellieren automatisch an den gesunden Menschenverstand und damit an das Verantwortungsbewusstsein. 

5.) Im Frühjahr 2020 konnte sich niemand vorstellen, welche Auswirkungen ein neues Virus auf unser Zusammenleben haben würde. Nach über einem Jahr wird es Zeit, sich ohne ideologische Scheuklappen den Erfolgen und Misserfolgen unserer Pandemiebekämpfung zu stellen. Das ist der Auftrag an die Wissenschaft. 

Änderung im Zeitverlauf 

Der wesentliche Inhalt unserer Hypothese zur Clusterbildung und Selbstregulierung war Gegenstand eines Gastbeitrags von uns in der Neuen Züricher Zeitung im Februar 2021 (https://www.sokrates-rationalisten-forum.de/ ). Im Prinzip hat sich an der Thematik nichts geändert. Die Situation ist aber durch die hohe Impfquote in Deutschland (im November 2021 ca. um 75 %) deutlich besser geworden. Wir haben zwar ähnliche Inzidenzen wie vor einem Jahr, aber die Todesrate liegt etwa in den Bereichen der Jahre vor der Pandemie. Das ist eindeutig ein Erfolg der Impfung. Typischerweise steigt die Todesrate mit Beginn des Herbstes an, wenn die Infekte zunehmen. Länder mit ähnlicher Infrastruktur zeigen ein vergleichbares Verhalten. Übrigens ist auch die Zahl der Krankenhausaufnahmen für alle Erkrankungen bei Geimpften deutlich niedriger im Vergleich zu Ungeimpften. Das ist ein wichtiges Argument, um Impfskeptiker zu überzeugen. 

Was aber viele unserer Mitbürger umtreibt und bisweilen zur Verzweiflung bringt: Warum sind die Inzidenzen so hoch, obwohl doch so viele Menschen geimpft sind? Dafür gibt es eine wissenschaftlich seriöse Erklärung: Auch Geimpfte inhalieren die virushaltigen kleinen Aerosole, die sich zumeist in der Nase niederschlagen. Dort können sie sich in der Schleimhaut (auch Riechschleimhaut) vermehren wie zuvor. Erst wenn sie ins Blut kommen, kann die Immunabwehr reagieren. Antikörper und zelluläre Immunabwehr inaktivieren die Viren, sodass oft nur milde oder keine Symptome entstehen. Was aber jeder wissen muss: Natürlich gibt es trotzdem manchmal schwere Erkrankungen, da ein Impfschutz nie hundertprozentig wirksam ist. Diese nüchterne Betrachtungsweise ist uns aber in dieser Pandemie verloren gegangen. 

Warum vermehren sich aber die Viren in der Nase, obwohl man geimpft ist? Das erklärt sich aus dem Impfvorgang: Die Impfflüssigkeit wird in den Muskel und damit ins Blut gespritzt. Dort wird anschließend die Immunabwehr stimuliert. Sie findet jedoch nicht bzw. deutlich schwächer in der Schleimhaut der oberen Atemwege statt. Dabei gibt es auch eine spezifische, stimulierbare Immunabwehr in der Nasenschleimhaut, insbesondere die Immunglobulin-A Antikörper. Diese werden vor allem stark aktiviert, wenn das Virus auf dem natürlichen Wege in den Körper gelangt, also auf der Schleimhaut der Atemwege deponiert. Daraus erklärt sich die bessere Immunabwehr bei Geimpften, wenn Sie sich später auf natürlichem Wege mit Coronaviren infizieren. Diese ist aus dem Blickwinkel der Stimulation des Immunsystems sogar effektiver als eine Boosterimpfung. 

Unser Fazit: Wir haben keine mit dem vergangenen Jahr vergleichbare Inzidenz. Vielmehr ist es eine Meldeinzidenz mit vielen Geimpften, die nie oder nur wenig krank werden. Das ist eine positive Botschaft. Deswegen müssten die Abwehr- oder Vorsichtsmaßnahmen entsprechend angepasst bzw. abgemildert werden. 

Wären wir als Gesellschaft bei den früheren Epidemien in gleicher Weise vorgegangen, so wären in einzelnen Regionen (Clustern) schnell Inzidenzen von über 1000 herausgekommen. Jetzt haben wir aber das erste Mal ein diagnostisches Mittel wie die Tests als Präventionsinstrument eingesetzt. Den rationalen Umgang mit diesem neuen Instrumentarium müssen wir offenbar erst noch lernen. Das ist in der Medizingeschichte aber häufig zu beobachten gewesen. 

Es gibt noch einen anderen wichtigen Aspekt aus der Pandemie-Forschung. Die aktuell hohen Inzidenzraten mit oft nur leichtem oder fehlendem Krankheitsverlauf führen auf der Basis einer Grundimmunisierung durch Impfungen zu einer Beschleunigung des Weges in den Status einer Endemie, also eines dauerhaften Verbleibens des Virus mit am Ende nur noch schwachen Reaktionen, ähnlich wie bei den anderen Corona- oder Influenzaviren, die bei uns schon endemisch sind. Dies ist ein wichtiger Aspekt bezüglich des endgültigen Ausweges aus der Pandemie, da es nicht gelingen wird wie z. B. beim Pockenvirus, den Coronavirus auszurotten. Es gibt genug Daten, die zeigen, dass es in manchen Menschen, mit symptomfreien Intervallen über Wochen, in Einzelfällen auch über Monate persistieren kann. Bei bestimmen Situationen mit passagerer Immunschwäche bricht er dann wieder aus, ähnlich wie der Herpesvirus an der Lippe oder auch die häufigen banalen Infekte, die oft durch Rhinoviren ausgelöst werden, welche in der Nase häufiger dauerhaft persistieren. 

Von solchen persistierenden Viren kann immer wieder eine Pandemie ausgehen, wenn bestimmte Mutationen die Infektiosität erhöhen. Dann entwickelt sich eine Pandemie im Verlauf durch Immunisierung und Impfung typischerweise über die regionale Epidemie zur Endemie, also zu vereinzelten lokalen Ausbrüchen. Das ist bei der Influenza typisch. Also müssen wir mit dem Virus leben. Durch den Impferfolg ist die Pandemie im Wesentlichen vorbei, jedenfalls wenn man die Entwicklung mit Abstand betrachtet. Es gibt auch ansonsten positive Nachrichten: Die Entwicklung von Kombi-Impfstoffen gegen Influenza und Coronaerkrankung kommt voran, um in absehbarer Zukunft die Risiken solcher Epidemien begrenzen zu können. Die in diesen Tagen regional angespannte Lage auf den Intensivstationen ist ein anderes Thema, das uns noch einmal gesondert beschäftigen wird. Hier zeigen sich die Strukturfehler unseres Gesundheitssystems, deren Ursachen nicht einem Virus anzulasten sind. Sie werden durch ihn nur sichtbar gemacht.