Vom Federkiel zum Tablet

Quelle: St.-Franziskus-Schule Olpe

– um einen positiven Wandel in Schule und Gesellschaft herbeizuführen, braucht es mehr als technische Entwicklungen – auch im Sauerland

Ein Gedankenspiel – nicht nur für Eltern und Lehrer*

Die Technik hat sich im letzten Jahrhundert rasant entwickelt. Kommen Schule und Gesellschaft da noch hinterher? Sind Neuerungen immer von Vorteil? Wo muss ein Umdenken stattfinden und was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen, damit sich unsere Gesellschaft gut entwickelt?

Während es in den 1950er Jahren für die meisten Familien im Sauerland ein unbeschreiblicher Luxus war, einen eigenen Fernseher oder ein Telefon zu besitzen, kennen Kinder heute kaum noch Röhrenfernseher oder Festnetz mit Wählscheibe und Kabel. Spätestens beim Wechsel in die weiterführende Schule besitzen die meisten ein eigenes Smartphone.

In der Schule ist der technische Wandel besonders prägnant. Während die Großelterngeneration noch mit Federkiel und Tinte schrieb, sitzt die Enkelgeneration mit Tablets im aufgerüsteten Klassenzimmer und folgt dem cross- und multimedialen Unterricht auf der digitalen Tafel oder verfolgte (pandemiebedingt) den Unterricht per Videokonferenz von zuhause aus. Ganz selbstverständlich bewegen sich Schüler, Lehrer und Eltern in Chats, kommunizieren per E-Mail, Messenger oder Videoanruf.

In den 1950er Jahren hatte nahezu jeder Ort im Sauerland eine eigene Volksschule für die Klassen eins bis acht. Kinder aus verschiedenen Jahrgängen saßen gemeinsam in einem Klassenraum und wurden von oftmals nur einem Lehrer unterrichtet, wobei manch einer nicht zimperlich war, was seine schlagkräftigen Erziehungsmethoden betraf. Heute zum Glück undenkbar.

Was hat sich geändert?
Neben dem Schulsystem, das verschiedene Schulformen für unterschiedliche Abschlüsse vorsieht, und der technischen Entwicklung – quietschende Kreidetafeln sind in vielen Klassenzimmern durch digitale Tafeln sowie Hefte und Bücher durch Tablets ersetzt worden – hat sich wohl vor allem das Bild sowie das Selbstverständnis von Lehrern und Eltern im Laufe der Jahre verändert. Bei vielen Eltern und Schülern mag auch der Respekt den Lehrern gegenüber gesunken sein, während die Ansprüche gestiegen sind: Die Schule soll richten, was zuhause an Erziehung versäumt wurde und viel Verantwortung wird dabei an die Schule abgegeben.

Wer kennt sie nicht, die Übermütter und -väter, die ihre Schützlinge mit dem SUV bis zum Schultor bringen und mit den Lehrern über vermeintlich unangemessene Notengebung diskutieren?

Auch früher gab es wohlbehütete Kinder von Eltern, die alles in Frage stellten, ebenso wie es heute Kinder gibt, die sich alleine durchschlagen müssen, weil ihre Eltern keine Zeit oder kein Interesse an der schulischen oder persönlichen Entwicklung ihres Kindes haben. Da sind aber auch die Eltern, die ihren Kindern Dinge zutrauen und sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen, die sich in der Schule engagieren, die Stärken ihrer Kinder fördern und ihre vermeintlichen Schwächen akzeptieren.

Was ist gleich geblieben?
In den Schulen ist der Frontalunterricht leider häufig noch die meist genutzte Unterrichtsform: Ein Lehrer unterrichtet von vorne und bis zu zweiunddreißig Schüler in einer Klasse sollen dem Geschehen folgen.

Immer noch gibt es Haupt- und Nebenfächer, die ungleich gewichtet werden. Wieso ist Mathe wichtiger als Geschichte oder Englisch wichtiger als Erdkunde? Wären nicht Fächer wie Nachhaltigkeit und Wertschätzung gegenüber Mensch, Tier und Umwelt sowie Gesundheit und Ernährung genauso wichtig?

Außerdem ist der Schulbeginn an den allermeisten Schulen immer noch sehr früh, obwohl schon seit Jahren wissenschaftlich belegt ist, dass viele Jugendliche früh morgens geistig noch im Tiefschlaf sind. Niemand kann sich konzentrieren und etwas speichern, wenn das Gehirn quasi noch schläft. Vereinzelt gibt es schon Schulen, die einen flexiblen Schulbeginn anbieten, was ein guter Ansatz, aber natürlich mit organisatorischem Aufwand verbunden ist, den wohl viele Schulen und Städte scheuen.

Damals wie heute gab und gibt es begnadete Lehrer, die für ihren Beruf leben und wirklich am Wohl der Schüler interessiert sind. Solche, die jedes Kind dort abholen, wo es steht, seine Potenziale erkennen und fördern. Die Zeit des Distanzunterrichts hat einmal mehr deutlich gezeigt, wer wirklich engagiert und an der gesunden Entwicklung der Kinder interessiert ist.

Leider gibt es nach wie vor auch solche Pädagogen, die besser einen anderen Beruf gewählt hätten, die in der freien Wirtschaft nicht überleben würden, aber unter dem Schutz des Beamtentums weiter unterrichten dürfen. Lehrer, die wissen, dass sie (spätestens bei der Notenvergabe) am längeren Hebel sitzen, die vorwiegend das Negative am Verhalten der Kinder wahrnehmen, ihre Macht ausspielen, Kinder gedanklich in Schubladen stecken und zum Glück zwar nicht mehr mit Schlägen, aber mit Worten verletzen. Gewalt sollte in Schule und Gesellschaft ebenso fehl am Platz sein, wie Vorurteile und Schubladendenken, Ausgrenzung oder gar das Aufgeben eines Kindes.

Was müsste passieren?

Ein Gedankenspiel mit vielen Fragen
Zweifellos ist der Anspruch an den Beruf gewachsen: sinkender Respekt, steigende Ansprüche, Digitalisierung, kulturelle Differenzen, sprachliche Hürden, sogenannte verhaltensauffällige Kinder – all das macht den Beruf sicherlich nicht einfacher.

Wahrscheinlich haben Lehrer in Ballungsräumen mit gravierenderen Problemen zu kämpfen als hier in recht übersichtlichen Schulen und dörflichen Strukturen. Trotzdem ist das Sauerland nicht der Inbegriff der heilen Welt.

Auch die Ansprüche an die Eltern sind gewachsen und das ist vielleicht auch ein Nachteil auf dem Dorf, wo die Nachbarn sich noch kennen: Es entsteht sozialer Druck. Ich habe schon Eltern erlebt, die sich entschuldigt haben, dass ihr Kind nicht zum Gymnasium geht. Wie kann das sein? Warum muss jedes Kind unbedingt Abitur machen und studieren?

Die Frage, die sich jeder stellen sollte, ist doch: Was ist mir wichtiger, das Gerede der Nachbarn oder das Wohl meines Kindes?

Gesellschaft und Schule sollten sich zudem fragen lassen, warum oder ob sich alle dem Mainstream anpassen müssen. Wollen wir nur noch adaptierte und kantenlose Kinder, die mit dem Strom schwimmen? Oder möchten wir Individuen, die Charakter haben, diesen auch formen dürfen, eigene Ideen entwickeln und im Elternhaus und in der Schule positiv bestärkt statt ausgebremst werden? Außer Frage steht dabei, dass gesetzliche und gesellschaftspolitische Regeln eingehalten werden müssen, damit ein gewaltfreies Miteinander funktioniert.

Aber warum wird jedes Verhalten abseits der Norm negativ besetzt und gefordert, dass sich das Kind anpasst?

Warum gibt es in weiterführenden Schulen nicht viel mehr wählbare Arbeitsgruppen, in denen Schüler ihre persönlichen Interessen und Potenziale entdecken können?

Warum werden die Abschlussklassen nicht praxisnah auf das Leben nach der Schule vorbereitet? Mit dem Latinum kann ich kein Konto eröffnen und das Periodensystem der Elemente hilft mir bei der Steuererklärung auch nicht weiter.

Auf all das hat natürlich nicht jeder Lehrer und jede Schule Einfluss, vielmehr müsste sich auf politischer Ebene etwas bewegen.

Vielfalt ist Bereicherung
Warum wird die kulturelle Vielfalt in den Klassen und in der Gesellschaft oft als Hindernis statt als Gewinn gesehen? Warum müssen wir vor sprachlichen Hürden kapitulieren? Die Schule könnte beispielsweise mehrsprachige Elternbriefe verfassen, Eltern könnten sich um Dolmetscher bemühen oder die Hilfe von Schulsozialarbeitern in Anspruch nehmen. An einem Elternabend in der Grundschule traf ich einmal eine Mutter mit ihrer Begleitung, die für sie übersetzt hat. Diesen Einsatz für ihr Kind und ihr Interesse an seinem Schulleben fand ich großartig.

Warum werden viele Kinder als Störenfriede hingestellt, die es gilt, ruhig zu stellen, anstatt sich der Herausforderung zu stellen, jedes Kind in seiner Eigenheit anzunehmen, sein Verhalten zu hinterfragen, nach Ursachen zu suchen und es auf einen Persönlichkeit stärkenden und schulisch guten Kurs zu bringen?

Warum wird beim Elternsprechtag nur das vermeintlich Schlechte erwähnt und warum hat Felix von vornherein bessere Chancen als Kadir?**

Könnten nicht viel mehr Kinder mit sogenannten Handicaps in Regelschulen unterrichtet werden? Der Ansatz mit Förderlehrern und Inklusionshelfern ist bereits da, könnte aber bestimmt noch ausgeweitet werden. Denn wie soll eine Inklusion im Erwachsenenalter funktionieren, wenn Kinder und Jugendliche die Vielfalt der Gesellschaft nicht erleben können? Gerade hier könnte die Technik genutzt werden, um die Inklusion voranzubringen und so die Verschiedenartigkeit von Menschen positiv wahrzunehmen statt Gruppen auszugrenzen. Beispiele sind computergestütztes Lernen für Kinder mit körperlichen Einschränkungen oder Videoübertragungen des Unterrichts für kranke Kinder, die pandemiebedingt nicht in die Schule gehen dürfen.

Wie sollen Vorurteile jemals abgebaut werden, wenn sie über Generationen (oftmals auch unbewusst) weitergegeben werden?

Potenziale entdecken und fördern
Statt auf seine vermeintlichen Schwächen sollte vielmehr auf die Talente und Potenziale eines jeden Kindes und Jugendlichen geschaut werden. Vermutlich waren die meisten großen Denker, Erfinder und Unternehmer unserer Zeit keine adaptierten Duckmäuser. Vielleicht waren einige von ihnen sogar auffällige, mitunter schwierige Charaktere, die Ideen und Visionen hatten und gegen den Strom ihrer Zeit geschwommen sind.

Wie wäre es, wenn Eltern und Lehrer die Perspektive ändern und ein Kind als verhaltenskreativ statt auffällig wahrnehmen, als charakterstark statt bockig, als kritisch hinterfragend statt aufmüpfig?

Jugendliche haben üblicherweise andere Interessen in ihrer Freizeit als Hausaufgaben zu erledigen oder für eine Klassenarbeit zu lernen. Daran ändert auch die Digitalisierung nichts. Die technischen Möglichkeiten können allerdings genutzt werden, um die unterschiedlichen Prioritäten, die Eltern, Lehrpersonal und Jugendliche setzen, in eine gemeinsame Richtung zu lenken. Der Unterricht kann heute durch die Vielfalt an technischen Möglichkeiten viel abwechslungsreicher und ansprechender gestaltet werden als zur Ära von Griffel, Tintenfass und vergilbten Landkarten an sperrigen Kartenständern.

Gefahren der Technik
In vielen Schulen gibt es das Fach Medienerziehung, was zeigt, dass es einen enormen Bedarf an medialer Kompetenz gibt. So großartig der technische Fortschritt auch ist, er birgt auch Gefahren. Vor allem Jugendlichen muss die Tragweite ihres sorglosen Handels in diversen Chats und Plattformen bewusst gemacht werden.

Im Zuge der Technik hat sich bei einigen Eltern und Kindern auch das Konfliktverhalten geändert. Wurden früher Streitigkeiten noch auf dem Schulhof und unter den Kindern ausgetragen, ist heute der Schritt zum Mobbing in den sozialen Netzwerken sehr klein.

Eltern hetzen in Chat-Gruppen gegen Lehrer und vermeintliche Störenfriede in der Klasse, die der Karriere ihres eigenen Kinders im Weg stehen könnten und am besten aus der Klasse ausgeschlossen werden sollten. Schüler sind durch unüberlegtes Handeln anderer schnell und nachhaltig Opfer von Mobbing. Die Verbreitung von bösartigen Gerüchten oder Bildern geht rasant schnell, die Hemmschwelle ist viel niedriger und das Netz vergisst nichts.

Ein Lernprozess für alle
Die Schulen müssen mit der Zeit gehen, Lehrer sollten fit gemacht werden im Bereich Digitalisierung und Technik. Auch ältere Semester müssen sich damit abfinden, dass der gute alte Overhead-Projektor ausgedient hat und digitale Tafeln und Tablets die aktuellen Medien in der Schule sind. Und wir Eltern sollten uns Sätze verkneifen, die mit „Aber bei uns damals …“ beginnen. Genau: Damals war‘s und heute ist heute.

Es muss ja auch nicht alles neu erfunden werden. Es gibt schon unterschiedliche Schularten, die alternative Ansätze haben, und auch ein Blick in unsere Nachbarstaaten zeigt, dass sich beispielsweise Systeme wie Ganztagsbetreuung oder Schuluniformen seit Jahren bewährt haben.

Der rasante technische Fortschritt macht das Leben in vieler Hinsicht leichter, es liegt aber an uns allen, was wir daraus machen. Die Verantwortung liegt sowohl bei den Eltern als auch bei den Lehrern, die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg zu verantwortungsbewussten, sozial- und medienkompetenten sowie eigenständigen Persönlichkeiten zu begleiten.

Liebe Eltern, habt Vertrauen in eure Kinder und hört mehr auf euer Bauchgefühl und den eigenen Menschenverstand als auf das Gerede der anderen – jedes Kind wird seinen eigenen Weg gehen. Und es sollte doch schließlich darum gehen, dass euer Kind glücklich ist, seine Potenziale entfalten kann und zu einem weltoffenen, verantwortungsvollen Erwachsenen heranwächst, oder?

Liebe Lehrer, versucht das Positive in jedem euch anvertrauten Kind zu sehen und euch jeden Tag daran zu erinnern, warum ihr diesen Beruf gewählt habt.

Liebe Sauerländer, zeigt euch von eurer weltoffenen und herzlichen Seite. Ich bin sicher, dann kann Gesellschaft gelingen.

* Zur besseren Lesbarkeit werden im vorliegenden Text nur die männlichen Formen verwendet. Selbstverständlich sind auch Lehrerinnen, Schülerinnen und Sauerländerinnen eingeschlossen.

** Alltagsrassismus ist ein Aspekt, der so tiefgründig und bedeutend ist, dass er in diesem Rahmen untergehen würde und deshalb hier nicht weiter vertieft wird.