Nadija Hochstein (50) aus Schmallenberg informiert sich seit Beginn des Krieges täglich über die Lage in ihrem Heimatland und die Auswirkungen der Belagerung durch die russische Armee. In Telefonaten mit ihrer in Kiew lebenden Cousine fordert sie diese auf, mit ihren Kindern, die unter den Bombardements leidende Stadt umgehend zu verlassen. „Bringt Euch in Sicherheit! Kommt nach Schmallenberg!“
In der vergangenen Woche war es soweit. Am Mittwoch, 8. März, um halb acht morgens, stiegen Oksana Dobrianska (48) und ihre beiden Töchter Daryna (19) und Sofiia (10) in einen im Zentrum von Kiew wartenden Reisebus. In einer 24-stündigen Fahrt ging es quer durch die Ukraine nach Warschau. „Wir wollten unsere Heimat nicht verlassen. Aber Nadija und mein Vater haben uns immer wieder gebeten, aus Sicherheitsgründen nach Deutschland zu reisen“, sagt in sehr gutem Deutsch, die Medizinstudentin Daryna. Vater Oleg Dobrianskij (49) hat sich, wie fast alle Männer in der Ukraine der heimischen „Bürgerwehr“ angeschlossen. Die Arbeit in seinem Handelsunternehmen mit Produkten für die heimische Landwirtschaft wird dafür zurückgestellt. „Es geht um unsere Ukraine. Wir halten alle zusammen. Die Ukraine wird gewinnen. Das ist die Wahrheit. Das ist die Zukunft.“ Mit großem Enthusiasmus berichtet Daryna über die Empfindungen und die Meinung der Menschen in ihrem Heimatland. „Wir sind ein schönes, freies und starkes Land“, sagt Daryna.
Es geht um unsere Ukraine
Angekommen in Warschau herrschte am Hauptbahnhof ein großes Durcheinander. Doch Familie Dobrianska hatte Glück und erhielt schnell Bahntickets für die Bahnfahrt über Berlin bis nach Meschede. „In Berlin sind wir wunderbar aufgenommen und informiert worden. Das war alles, sehr, sehr freundlich“, berichtet Daryna. Von Berlin ging es umgehend in Richtung Dortmund weiter. Und am Freitagmorgen um 7:30 Uhr – exakt nach 48 Stunden – konnte Nadija Hochstein ihre Cousine und die beiden Kinder Daryna und Sofia am Bahnhof in Meschede in die Arme schießen. „Wir sind Nadija sehr, sehr dankbar, hier in Schmallenberg in Sicherheit zu sein. Mit unseren Gedanken sind wir jedoch bei meinem Vater und den Menschen in der Ukraine“, sagt Daryna. „Wir hoffen und beten, dass der Krieg bald endet.“
Ihre Wohnung in einem Hochhaus in Kiew hatte Familie Dobrianska schon nach den ersten Kriegstagen verlassen und war in ihr Haus in einem Vorort von Kiew gezogen. Doch auch hier stieg die Gefahr durch Beschuss oder Bombensplitter in Lebensgefahr zu geraten. „Bei einer Explosion in der Nachbarschaft sind heiße, brennende Splitter in unseren Garten geflogen. Zum Glück nicht auf das Dach. In einem Nachbarort ist dadurch ein Haus in Flammen aufgegangen.“ Man sieht Daryna die Furcht und Angst vor Bomben und Zerstörung augenscheinlich an, wenn sie von den kriegerischen Erlebnissen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft erzählt. „Fast alle männlichen Personen, die nicht im Militärdienst der Ukraine sind, haben sich in den Siedlungen und Orten zu Gruppen und Verbänden zusammengeschlossen, um ihre Häuser und Dörfer zu verteidigen“, sagt Daryna. „Sie stellen sich den einrückenden russischen Truppen mit Mut und ganzer Kraft entgegen. Noch nie hat es einen so großen Zusammenhalt bei uns gegeben.“
Zusammenhalt und Hilfe
Die ersten Tage in Schmallenberg sind für Familie Dobrianska wie im Fluge vergangen. Von der Stadt gab es eine finanzielle Zuwendung, so dass mit Hilfe von Nadija Hochstein warme Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs gekauft werden konnten. Im weiteren Gespräch erklärt Daryana, auch im Namen ihrer Mutter: „Wir sind nicht geflüchtet, sondern aus Sicherheitsgründen hier nach Deutschland gekommen, um abzuwarten, bis der Krieg hoffentlich bald vorbei ist. Dafür, dass wir hier sein dürfen sind wir Nadija und allen die das unterstützen, sehr dankbar.“
Daryana wäre, auch ohne den Kriegsausbrauch, in wenigen Wochen nach Deutschland zum Medizinstudium gekommen. In einigen Tagen findet der, für ein Studium in Deutschland zwingend erforderliche Deutschtest, in Essen statt. Danach wird sie an einer Medizinischen Fakultät, vermutlich in Nordrhein-Westfalen ihr Medizinstudium vollenden. Dafür ist sie täglich online mit ihrer Hochschule in Kiew in Verbindung, um das begonnene Semester abzuschließen. Für die kleine Schwester Sofiia geht der Schulunterricht hier in Deutschland ebenfalls weiter. Sie ist mit ihrer Schule in Kiew online verbunden und nimmt am Unterricht dort täglich teil. „Online-Unterricht ist für uns nichts Ungewöhnliches. Mit Beginn des Krieges wurden Kinder und Studenten, wenn ein Besuch der Schule oder des Studiums wegen Luftangriffen oder Ausgangssperren nicht möglich war, online unterrichtet“, berichtet Daryana. Trotz der Freude über die erlangte Sicherheit und die herzliche Aufnahme in Schmallenberg, sind die Gedanken ständig bei den lieben Angehörigen in der Heimat. Per Telefon oder mit den Sozialen Medien erhalten Oksana Dobrianska und ihre Kinder ständig die neuesten Nachrichten vom Kriegsgeschehen und hören, wie es ihrem Mann und Vater und den anderen Verwandten und Bekannten in der Ukraine geht. „Wir hoffen und bangen und sind sicher, dass wir siegen werden“, erklärt Daryna energisch und zuversichtlich.