Sündenbock

Quelle: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Fallende Sterne, Missernten, Unwetter – und dreihundert Frauen und Männer müssen dafür mit dem Leben bezahlen. So geschehen im 17. Jahrhundert mitten im Sauerland. Genauer in Balve.

Als der Hexenkommissar Caspar Reinhartz in den 1650er Jahren Ermittlungen im Städtchen Balve ankündigt, erwarten die Bewohner eine Erklärung für das Leid der vergangenen Jahre. Die Bettlerin ‚Anna im Dreck‘ ist das erste Opfer des fanatischen Juristen – doch die Geständnisse, die auf die Verhöre folgen, ziehen weite Kreise. Bald sind es nicht nur die Armen und Schwachen, die sich mit Verhaftung, Folter und Hinrichtung konfrontiert sehen. Die Balver müssen sich eingestehen, dass sie mit dem grausamen Reinhartz den leibhaftigen Teufel zu sich gerufen haben. Um das Fräulein Marie formiert sich Widerstand – ein Plan, der die Aufsässigen das Leben kosten kann …

Die Autorin Anja Grevener, geboren in Menden, lebt heute mit ihrer Jugendliebe und der gemeinsamen Tochter in Wickede. Mit dem Roman „Sündenbock“, der auf Prozessakten basiert, lässt sie die Leser an den schrecklichen Ereignissen rund um Balve, in der Zeit vor rund vierhundert Jahren, teilhaben. Angehängt an die Romanhandlung ist eine umfangreiche Spurensuche, die dem Leser die verbrecherischen Abgründe der Balver Hexenprozesse offenbart.

Quelle: WOLL-Verlag

Prolog

Anna von Hövel

Das grelle Licht der Sonne auf dem Metall der Harke, die auf der Schulter der Buckligen hin und her schwankte, flrrte. Lichtpunkte sprangen mal ins Geäst der Dorfinde, mal auf den Weg hinter ihr. Angestachelt durch die Hitze des Spätsommers, führten die Windteufel ihren Tanz auf. Sie trafen das Gesicht einer Heiligefigur in ihrem Schrein, fanden ihren Weg zu dem weit geöffneten Deelentor auf dem ärmlichen Hof am Wegesrand.

Ein spindeldürres Mädchen mit schmutzigen Wangen blickte von seinem Spiel auf, als das Licht sie traf. Sie ließ ihr Holzpferdchen fallen, richtete sich auf und strich sich über die Stirn. Dann stakste sie fasziniert hinter den tanzenden Lichtpunkten her, die immer dann aufblitzten, wenn die Sonne das Blatt der Harke traf. Sie konnte den Blick nicht von den funkelnden Strahlen nehmen, starrte ihnen fasziniert hinterher, folgte wie hypnotisiert. Plötzlich krallte sich eine kalte Hand in das Herz des Kindes und ließ es erstarren. Alle Muskeln in ihrem Körper verkrampften sich und verweigerten ihr den Gehorsam. Ihr Mund öffnete sich zu einem markerschütternden Schrei, der wie das Kreischen eines Dämons durch das Dorf hallte. Wie durch die Fäden einer Marionette empor gerissen, flogen ihre Arme hoch. Ihr Geist verschwand und wie ein gefällter Baum viel sie stocksteif nach hinten.

Der entsetzliche Schrei ihres Kindes ließ die Bäuerin zusammenzucken. Hastig eilte sie aus der Deele auf den Hof. Sie sah ihre Tochter im Staub liegen, die Glieder verdreht. Blasen von Spucke spritzten dem Kind aus dem Mund, verfärbten sich zu grässlich rosafarbenem Schaum mit blutigen Sprenkeln. Das Entsetzen der Mutter lähmte sie für einen entsetzlichen, langen Augenblick. Dann riss sie sich mit einem Ruck zusammen, warf sich auf den Boden und versuchte panisch, Ruhe in den gequälten Körper zu streicheln. Ohne Erfolg. Steif lag das Kind am Boden, zuckte, den Kopf weit in den Nacken gepresst. In der Düsternis, die sich ihr aus dem schwarz verschleierten Blick des Kindes entgegenwarf, fand sie keine Erinnerung an Familie, Dorf oder Gott. Tränen liefen der Mutter über die Wangen, kein Laut wollte über ihre Lippen fließen, kein Hilfeschrei gelingen. Ihr Blick flatterte und heftete sich verzweifelt an die Gestalt, die über die Dorfstraße schlurfte, als ginge sie das Drama auf dem Hof nichts an. Hilflos fraß sich ihr Blick in den Rücken der Alten.

Mit gerunzelter Stirn hielt die Bucklige inne, drehte sich um und blickte zurück. Sie erschrak. Die Harke rutschte von ihrer Schulter und ÿel in den Staub.Die Hand der Mutter knetete das Haar im Nacken des Kindes, seinen Kopf in ihren Schoß gepresst. Die Kleine begann zu grunzen, zischelte und knurrte die Bucklige an. Die Mutter spürte den Drang, das Kreuzzeichen zu schlagen, ihre Hand löste sich aus dem wirren Schopf, die Finger fuhren sich wie von selbst an ihre kalte Stirn, verharrten, sanken zurück auf den Kopf ihres Kindes, das Kreuz blieb ungeschlagen. „Anna im Dreck …“, wisperte sie und die Augen der beiden Frauen trafen sich über dem zuckenden Scheitel des Kindes hinweg.

Das Buch „Sündenbock“ von Anja Grevener ist im WOLL-Verlag erschienen. 266 Seiten – ISBN: 978-3-948496-69-2 – 15,90 Euro – und ist im örtlichen Buchhandel und auch im Onlinehandel erhältlich.