Ein Möbelstück erzählt aus seinem Leben
Meine Geburt ist schon so lange her, ich kann mich kaum daran erinnern. Es sind einige Jahrzehnte.
In jedem Fall komme ich aus einer stabilen und soliden Familie der Armlehnstühle. Mein Rahmen ist aus gepflegtem, glänzendem Nussbaumholz und meine Organe aus kräftigen, wunderschön geschwungenen Federn. Als Kleid trug ich einen braun gemusterten Stoff, wie es damals Mode war. Ich war wirklich chic!
Meinen Dienst verrichtete ich bei einer netten, lebendigen Familie mit vier Kindern und einem Hund. Es war immer was los! Die Kinder spielten und zankten miteinander und manchmal kläffte der Hund so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Musiziert wurde auch viel: mit Klavier, Geige, Cello und Querflöte. Ich hingegen stand immer still und leise in der Ecke im Wohnzimmer. Mein Platz war vor der großen nussbaumfarbenen Regalwand, direkt an einem geräumigen schweren Schreibtisch.
Mein Dienstherr Ferdi hatte es gerne ruhig. Bei dem ganzen Trubel im Haus setzte er sich am liebsten an seinen Schreibtisch. Hier erledigte er seine Bankgeschäfte, zeichnete Baupläne für Straßen und Brücken, bereitete Vorlesungen vor oder sortierte Briefmarken. Oh ja, an diese Briefmarken kann ich mich noch gut erinnern, es gab sie in so vielen Farben und mit vielen Motiven. Auch die Kinder haben gesammelt und später auch die Enkelkinder, aber gesessen haben sie auf mir nicht. Das war ausschließlich Ferdi vorbehalten. Telefonate waren wichtige Termine für Ferdi. Dreimal dürft ihr raten, wo diese erledigt wurden: Richtig, am Schreibtisch und mit mir zusammen. Für alle bedeutsamen Dinge wurde ich von Ferdi gebraucht und konnte ihm gut dienen.
Ganz selten wurde ich auch hin- und hergetragen, zum Esstisch, wenn die Enkelkinder zu Besuch waren und man beim Abendessen einen zusätzlichen Stuhl benötigte, oder zum Couchtisch, wenn viele Leute zum Kaffee kamen. Fast immer aber behielt ich meinen Ehrenplatz.
Ein gutes Team
Dann wurde es immer ruhiger und Ferdi wohnte irgendwann alleine in dem Haus. Nun verbrachte er noch mehr Stunden an seinem Schreibtisch und auf mir, genoss die Ruhe, aber vermisste den Trubel. Seine Bankgeschäfte und seine Briefmarken waren allerdings noch da. So verlebten wir weiterhin eine gute Zeit zusammen.
Mit den Jahren wurde Ferdi älter und gebrechlicher. Es war gut, dass ich so stabil gebaut war und Armlehnen hatte. So konnte man sich beim Aufstehen gut auf mir abstützen und ich war für Ferdi da, bis er 95 Jahre alt war. Danach war Ferdi zu schwach, um lange an seinem Schreibtisch zu sitzen, und hielt sich viel auf dem Sofa auf. Ich sah ihm von meiner Ecke aus zu und wusste, es wurde langsam Zeit, Abschied zu nehmen.
Abschied und Neuanfang
Eines Tages war Ferdi fort. Einsam und alleine stand ich nun in meiner Ecke, verwaist und leer.
Viele Leute kamen zu Besuch und räumten die Regalwand hinter mir und den Schreibtisch vor mir aus. Trostlos und leer sah das aus! Ich spürte, dass ich nicht erwünscht war, niemand wollte oder brauchte mich. Alle fanden mich hässlich und zu alt und ich hörte einige Leute „Sperrmüll“ murmeln. Dafür wurde ich mit einem farbigen Zettel markiert. Ich war sehr traurig, mein Leben sollte nun wohl zu Ende gehen.
Doch dann kam eines der Enkelkinder vorbei. Sie sagte zu mir, dass ich Ferdi immer gute Dienste bereitet hätte und ein Weiterleben verdient habe. Ab da wurde es auf einmal turbulent, sag ich euch!
Ich wurde liebevoll eingepackt und ins Auto geladen. Das war ne lange Fahrt. „Du bist jetzt im Sauerland“, sagte das Enkelkind zu mir, als ich wieder ausstieg. Was ich sah, gefiel mir gut.
Aber meine Reise war noch nicht zu Ende. Wieder stieg ich ins Auto – meine Güte, ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so viel Auto gefahren! – und an einem anderen Ort im Sauerland wieder aus. Dort erkannte ich eine Werkstatt mit vielen Stoffen und Schaumstoffteilen, und es war sogar Gesellschaft in Form eines anderen großen Armlehnstuhls da.
Das Enkelkind und die Chefin der Werkstatt hoben mich auf einen Laufsteg und begutachteten mich ausgiebig. Nacheinander hielten sie mir Stoffe für ein neues Kleid an. Das Enkelkind überlegte lange. Ich sollte modern aussehen, aber stilistisch sollte es schon zu meinem edlen, dunklen Gestell passen. Daher wurde ein schlichter grüner Stoff gewählt, der das Gestell betont und trotzdem nicht altbacken wirkt.
Meine inneren Organe wurden repariert und das neue Kleid für mich maßgeschneidert. Ich weiß ja, dass ich schon einige Jahre auf dem Buckel habe, aber ich fühlte mich gleich viel frischer. Nun war ich wieder erwünscht und wichtig. Das ist ein tolles Gefühl!
Jetzt wohne ich beim Enkelkind im Hochsauerland, stehe allerdings nicht mehr an einem Schreibtisch, sondern an einem Esstisch. Und ich muss sagen, auch diese Aufgabe fühlt sich richtig gut an. Ich bin sehr dankbar für mein neues Leben und dass ich dem Sperrmüll entkommen bin. Zusammen mit dem Enkelkind halte ich die Erinnerungen an Ferdi wach.