Schule in den 1960ern und 2020ern: Mehr als nur Wissensvermittlung

Quelle: Dr. Reichenbach

Die Bedeutung der Schule wird uns besonders in Pandemiezeiten bewusst. Doch sie prägte schon immer die Kinder ihrer Zeit. Wie unterscheidet sich die Schule der 1960er von der Schule heute? Eine Gegenüberstellung mit einem überraschenden Fazit.

Die altehrwürdige Aula des Städtischen Gymnasiums Olpe (SGO) mit den hohen Decken, den Wandmalereien und den bunten Fenstern strahlt eine Erhabenheit aus, fast wie eine Kapelle. Hier hält Gerd Reichenbach im Jahre 1968 stolz sein Abiturzeugnis in der Hand. Gemeinsam mit seinen elf von ursprünglich über 30 Klassenkameraden hat er seine achtjährige Gymnasialzeit erfolgreich bewältigt. Seine möglichen Berufswege sind vorgezeichnet: Er würde beispielsweise Lehramt, Jura, Medizin oder Pharmazie studieren – so wie es sich für Abiturienten gehörte. Zukunftsängste? Mitnichten! Was wird die Zukunft bringen und was wird von der Schulzeit die Jahrzehnte überdauern?

Im kommenden Jahr wird Linus Solbach in der Stadthalle Olpe sein Abiturzeugnis nach acht Jahren gymnasialer Laufbahn überreicht bekommen. Was prägt ihn während seiner Schulzeit? Was wird er seinen Enkeln später vom Gymnasium erzählen?

Acht Jahre Schulzeit, der gleiche Abschluss – unterschiedliche Jahrzehnte

Wenn die alte Aula sprechen könnte, würde sie von Theateraufführungen, Schulgottesdiensten, von Schulstreichen, Konzerten, Entlassfeiern, vom Wandel der Schule erzählen, der gleichzeitig mit der Veränderung der Gesellschaft einherging und immer noch geht. Und sie würde erzählen, warum manche Dinge sich nie ändern (sollten).

Mittlerweile ist Gerd natürlich längst seinen Kinderschuhen entwachsen. Nach seinem Medizinstudium in Münster und Freiburg arbeitete er drei Jahre in einem südafrikanischen Buschhospital. Danach kehrte er in seine Sauerländische Heimat zurück und praktizierte als Hausarzt und Palliativmediziner in der Olper Schwanenpraxis. An seine Schulzeit denkt er gern zurück. Uns lässt uns an seinen Erinnerungen teilhaben. Linus ist derzeitiger Schülersprecher und ermöglicht uns einen aktuellen Einblick hinter die Mauern des SGOs. Wir treffen uns in der schönen geräumigen Aula zum Gespräch.


Der Schulalltag – Von der reinen Jungenschule zum internationalen Gymnasium

„Als ich 1960 an das Städtische Gymnasium Olpe kam, musste ich zunächst eine Aufnahmeprüfung bestehen, in der meine Kompetenzen in Deutsch und Mathematik getestet wurden. Glücklicherweise habe ich bestanden“, berichtet Dr. Gerd Reichenbach schmunzelnd vom Start seiner Gymnasiallaufbahn. „Ich habe mich immer sehr wohl hier gefühlt. Wir waren über 30 Jungen in der Klasse und insgesamt über 500 an der gesamten Schule. Neben den ungefähr 20 Lehrern arbeitete hier nur eine einzige Frau: die Sekretärin. Wir Jungs fanden es natürlich ein wenig schade, dass wir keine Mädchen an der Schule hatten“, erinnert sich er sich augenzwinkernd.

Das hat sich mittlerweile geändert. „Zurzeit besuchen über 800 Schülerinnen und Schüler das SGO und unterrichtet werden wir von fast 70 Lehrkräften. Allerdings haben sich einige Dinge nicht verändert. Wie vor 50 Jahren beginnt der Unterricht um 7.30 Uhr. Meine Schulkameradinnen und -kameraden kommen aus dem ganzen Olper Stadtgebiet und zum Teil sogar darüber hinaus. Unsere Schule ist schon immer im Sport gut aufgestellt gewesen und wir werden zum Beispiel schon seit Längerem vom DFB unterstützt“, beschreibt Linus Solbach die Veränderungen.

„Um 13 Uhr war Feierabend.“

„Das war früher auch schon so“, wirft der Arzt ein. „Wir hatten damals schon eine enge Verbindung zur Schule und traten mit einem starken Fußballteam in Wettbewerben an, die anderen Schüler kamen mit zum Anfeuern! Ansonsten gab es nachmittags allerdings keinen Unterricht oder kulturelle und sportliche Angebote. Um 13 Uhr war spätestens Feierabend.“

„Heute ist das ganz anders“, erwidert Schülersprecher Linus. „Wir haben in der Oberstufe oft Unterricht bis in den Nachmittag und können unseren Interessen in den verschiedensten Arbeitsgemeinschaften und Projektkursen nachgehen, sei es Technik, Theater oder musikalische Angebote. Außerdem können wir zum Teil unsere Unterrichtsfächer in der Oberstufe frei wählen, zum Beispiel unsere Leistungskurse, die fünf statt zwei oder drei Stunden pro Woche unterrichtet werden. In diesen und in einem weiteren Fach schreiben wir dann unsere vom Land zentral gestellten Abiturklausuren. Dazu kommt eine mündliche Prüfung in einem vierten Fach.“

„Einmal die Woche zum Gottesdienst“

„Diese große Auswahl hatten wir leider nicht. Wir waren damals noch ein sogenanntes neusprachliches Gymnasium, die sprachlichen Fächer wie Deutsch, Englisch, Latein und Französisch waren gesetzt. Dazu kamen dann noch Mathematik und Sport. Die Naturwissenschaften hatten keinen hohen Stellenwert. Das holte ich während des Medizinstudiums dann erst einmal nach. Natürlich mussten wir im katholisch geprägten Olpe einmal die Woche, am Dienstagmorgen, in der Aula zum Gottesdienst.

Außerdem lernten wir die ganze Zeit im Klassenverband. Das Kurssystem, wie es heute in der Oberstufe existiert und das Schülerinnen und Schüler aus allen Klassen zusammenwürfelt, kannten wir nicht. Deshalb waren wir Klassenkameraden eine eingeschworene Truppe. Viele zähle ich bis heute zu meinen guten Freunden“, erzählt Dr. Reichenbach vom SGO der 1960er Jahre.


Der Unterricht – Vom Frontalunterricht zu kooperativen Lernformen

Die Vielseitigkeit des heutigen Schulalltages spiegelt sich auch in den Unterrichtsmethoden wider.

„Die Lehrerinnen und Lehrer unterrichten mal frontal oder im Unterrichtsgespräch, in anderen Stunden arbeiten wir in Gruppen oder halten selbst ein Referat. Ich glaube, heute werden wir vielmehr als früher zum Selbstlernen und -denken angeleitet. So habe ich schon in den letzten Jahren den Wandel in der Schule wahrnehmen können. Von digitalem Unterricht und der Arbeit mit Tablets hatte ich in der Unterstufe noch nie etwas gehört. Aktuell gehört das zum Standard im Unterricht.

„Aktuelle Ereignisse werden im Unterricht aufgegriffen.“

Wir haben ganz andere Möglichkeiten als früher, uns Wissen anzueignen und das ist auch bei steigender Komplexität dringend notwendig, um den heutigen Wissensstandard zu gewährleisten, der, wie ich denke, höher liegt als damals. Das Internet mit seinem unbegrenzten Wissen ist nur einen Klick entfernt. Allerdings müssen wir heutzutage aufpassen, nicht auf irgendwelche Falschmeldungen oder Fake News reinzufallen. Tabuthemen gibt es im Unterricht nicht. Auch aktuelle Geschehnisse wie der Klimawandel oder die Flüchtlingspolitik werden im Unterricht aufgegriffen. Wir sollen uns selbst ein Bild von der manchmal ziemlich unübersichtlichen Welt machen können und sind dabei mit ganz neuen Probleme konfrontiert, zum Beispiel dem Mobbing im Internet, dem steigenden Erfolgsdruck oder Zukunftsängsten“, beschreibt Linus die gegenwärtigen Herausforderungen.

„Da hatten wir es in den 1960er Jahren doch etwas einfacher. Unsere Welt war gefühlt viel übersichtlicher. Die Autorität des Lehrers wurde nicht infrage gestellt – er hatte immer recht. Es gab nur Frontalunterricht, sodass wir als Schüler passiver agiert haben als heutzutage. Früher wurde auch nicht so viel Faktenwissen verlangt wie heute. Eine Drei war eine richtig gute Note. Eine Zwei verteilte der Lehrer nur selten und eine Eins gab es fast nie.

„Der Zweite Weltkrieg war ein Tabuthema.“

Und bei uns gab es sehr wohl Tabuthemen. Dazu gehörte beispielsweise die Sexualkunde, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust. Es waren politisch bewegte Zeiten und eine enge Welt, Deutschland war durch die Mauer geteilt. Frankreich war eine halbe Weltreise entfernt. So habe ich es jedenfalls während meines Austausches damals empfunden. Und eine Beziehung zu einer gut 9000 Kilometer entfernten Partnerschule, wie wir sie heute zur der Bongaschule in Südafrika pflegen, war unvorstellbar. Diese Freiheit spiegelt sich natürlich auch in den heutigen Unterrichtsmethoden und -inhalten wider. Wir waren noch nicht so frei“, bekräftigt der Abiturient von 1968.

Die Menschen prägen die Schule – und umgekehrt.

Wenn man die beiden fragt, ob sie mit dem jeweils anderen die Schulzeit tauschen würden, sind sie sich einig: „Nein.“

Dr. Reichenbach lächelt: „Jede Generation hat andere Herausforderungen und jeder Schüler und jede Schülerin ist ein Kind der Zeit, in der es aufwächst. Und ich bin trotz der eingeschränkteren Freiheit sehr zufrieden mit meiner Vergangenheit. Und das Wichtigste, das mich in meiner Schulzeit geprägt hat, sind die Menschen. Meine Lehrer, die uns immer wohlgesonnen waren, und natürlich meine Mitschüler, die ich nie aus den Augen verloren habe und mit denen ich mich bis heute verbunden fühle. Schule ist Charakterbildung. Das wünsche ich dir auch, Linus, dass du später deinen Enkeln so von der Schule erzählen kannst und deine Schulfreundschaften die Jahrzehnte überdauern!“


„Das kann ich nur unterstreichen! Jede Generation hat ihre Probleme und ich bin mit meiner Schulzeit zufrieden. Wie du schon erwähnt hast, sind es die Menschen, die die Schule prägen, die uns prägen. Gerade jetzt während der Corona-Zeit, in der wir häufig virtuellen Kontakt haben und uns nur selten persönlich sehen können, merke ich, wie wichtig mir meine Stufenkameradinnen und -kameraden und der Kontakt zu den Lehrerinnen und Lehrern sind – da ist es egal, ob man 1968 seinen Abschluss macht oder nächstes Jahr“, antwortet Linus und lächelt.

Wie schön, dass sich manche Dinge doch nicht ändern. Da würde sicherlich auch die altehrwürdige Aula zustimmen.