Sauerländer Bräuche: Trauer macht durstig – Fellversaufen

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aus „Voll die Bräuche, woll!“ von Michael Martin

Wo? Überall im Sauerland
Wann? Im Trauerfall

„Den hätte er sich gewünscht!“, sagte mein Onkel Willi, als er nach der Beerdigung seines Schwiegervaters den ersten Schnaps ausgab.

Während im Gesellschaftsraum unserer Stammkneipe die alten Tanten noch in die Kaffeetassen seufzten und am unvermeidlichen Streuselkuchen mümmelten, prosteten sich die übrigen Trauergäste an der Theke bereits zu. Schnaps gehört nämlich zu einer ordentlichen Sauerländer Beisetzung wie das Spiegelei zum Krüstchen. Zum einen, weil Schnaps gut für das flaue Trauergefühl imMagen ist, zum anderen, weil man nie so recht weiß, was man außer „Prost!“ noch groß sagen soll. Tot is’ schließlich tot, woll.

Doch bereits beim zweiten Kurzen fällt garantiert dem ersten Trauernden eine Story ein, die er mit dem Verblichenen erlebt hat. Meistens eine lustige. Während alle lachen, macht das nächste Tablett mit Hochprozentigem die Runde.Man erinnert sich an schöne gemeinsame Momente, an Sprüche, Ticks und Macken des Verstorbenen, und wie er damals als Sargträger ins offene Grab des Dechanten stolperte. Und während alle prusten und gibbeln, steht der Geist des schmerzlich Vermissten plötzlich mitten unter seinen Lieben an der Theke und trinkt einen mit. Denn den hätte er sich tatsächlich jetzt gewünscht.

Dieses gemeinsame Lachen beim sogenannten Fellversaufen nimmt demTod tatsächlich seinen Schrecken. Denn auch wenn unser Körper schon kalt wie Uschis Füße unter dunklem Sauerländer Heimatboden liegt, lebt die Erinnerung an uns in den Köpfen vieler Menschen noch lange, lange weiter. Irgendwann dreht dann jemand die Hintergrundmusik lauter, weil zufällig das Lieblingslied des Toten läuft. Dann singen sogar die Tanten im Gesellschaftraum mit und trinken ausnahmsweise einen Likör. Ausnahmsweise! Denn an so einem Tag freut sich einfach jeder, dass er selber noch lebt und die Schnapsrechnung von der Trauerfamilie übernommen wird.

Im Zeitalter von Smartphone und Mineralwasser verschwindet das Fellversaufen leider langsam. Viele haben nach der Beerdigung keine Zeit zu bleiben, die meisten müssen noch fahren oder abends ins Fitnessstudio. Das kann jeder Mensch halten, wie er will, aber ich hab’s gern etwas altmodischer. Wer also nach meiner Beisetzung die erste Runde Schnaps ausgibt, hat meinen ausdrücklichen Segen und tut sogar noch etwas für den Erhalt traditionellen sauerländischen Brauchtums.

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