Sauerländer Bräuche: Grenzgänger Schnadezug – Schnadegang

aus „Voll die Bräuche, woll!“ von Michael Martin

Wo? In vielen Städten und Gemeinden, bekannt besonders aus Brilon
Wann? Jährlich, mancherorts alle zwei Jahre

Echte Sauerländer gehen gern an ihre Grenzen. Und zwar nicht nur an der Theke und beim Sex, sondern auch rund um ihre Heimatgemeinden. Denn dort befinden sich die Grenzmarkierungen zum Gebiet der Nachbargemeinden, und deren Bewohner haben schon immer gern mal die Grenzsteine oder Grenzpfähle verrückt, um ihr Territorium ein wenig zu erweitern. Schäbbiges Kroppzeug, das dazu noch das Osterfeuer schon am Gründonnertag abfackelt oder pünktlich zum Schützenfest eine fette Fuhre Mist vor deine Schützenhalle kippt. Also sollte man besser regelmäßig sicherstellen, dass der offizielle Grenzverlauf noch stimmt und man sich gegenseitig kein Land streitig macht.

Aus diesem Grund werden seit dem 14. Jahrhundert alljährlich, in Brilon alle zwei Jahre, gemeinsam mit den Grenznachbarn die Ortsgrenzen abgeschritten, um sich deren Verlauf in Erinnerung zu rufen und Konflikte zu vermeiden. Dieser Grenzmarsch wird als „Schnadezug“ oder „Schnadegang“ bezeichnet. Denn „Schnade“ stammt aus dem Sauerländer Platt und heißt Schneise oder Grenze.

Damit sich unerfahrene Erstteilnehmer auch wirklich genau merken, wo ihre Heimatorte anfangen und wo sie aufhören, werden die Schnadenovizen von erfahrenen Schnadebrüdern gepackt, hochgehoben und dreimal mit dem Hintern auf die Schnadesteine gesetzt. Und zwar schön mit Schmackes, so prägt sich alles gleich richtig ein. Dieser Initiationsritus ist beispielsweise beim Briloner Schnadezug auch heute noch ein ungeschriebenes Gesetz und nennt sich Stutzäsen:

Wer erstmals in der Schnadebrüder Mitte
sich auf dem Lagerplatze froh bewegt
wird flugs gestutzäst nach ererbter Sitte.

Im armen Meschede hingegen konnte man sich früher nur billige Grenzpfähle und keine haltbaren Grenzsteine leisten, deswegen heißt die Arschnummer dort Poahläsen, wobei „Poahl“ für Pfahl steht, und „Äsen“ für den Äs. Jeder Sauerländer weiß, dass nur der sich Poahlbürger nennen darf, der bei einer Schnade auf mindestens einem der Pfähle gesessen hat. In der offiziellen Poahläs-Urkunde des Sauerländer Gebirgsvereins bekommt man die Beschreibung eines echten Poahlbürgers sogar schriftlich: Nur der hinter diesen Pfählen lebende Bürger ist ein Poahlbürger, aufrecht, standhaft und beständig wie die ihn als Grenze umgebenden, ebenso schützenden wie von ihm beschützten Pfähle.

Ich denke, ganz so einfach ist das leider nicht. Rund um den Heimatort meiner Großtante kann sich ein Zugezogener fünfzig Jahre lang immer wieder auf die Poahle setzen lassen, er wird trotzdem immer ein Buiterling bleiben. Dä! Heute sind aus den Schnadegängen vielerorts tolle Volksfeste entstanden, und Jahr für Jahr ziehen zehntausende Sauerländer entlang ihrer früheren Dorf- oder Stadtgrenzen hinaus in Wald und Flur. An den Rastplätzen der Schnadegänger spielen Bands, die Stimmung ist prima und zum Abschluss gibt es oft noch eine Erinnerungsurkunde. Ein schöner Trost für alle, bei denen es nie ganz für eine Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen geklappt hat.

Der größte Schnadezug findet alle zwei Jahre in Brilon statt und hat in etwa den Umfang einer Völkerwanderung. Seit 1388 geht man dort jeweils ein Fünftel der Stadtgrenzen ab, denn ansonsten wären die satten 130 Grenzkilometer selbst für den wanderfesten Sauerländer etwas zu viel für einen Vormittag. Wer in zehn Jahren fünfmal mitgegangen ist, darf stolz behaupten, einmal rum zu sein. Und das zählt in Brilon mindestens genauso viel wie andernorts eine Alleinumseglung der Erde!

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