Sauerländer Bräuche: Ei, Ei, Ei! – Eierbacken

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aus „Voll die Bräuche, woll!“ von Michael Martin

Wo? Überall im Sauerland
Wann? Meist nach Mitternacht und einem Kasten Bier pro Kopf

Die Kneipe hat schon lange zu, der Türsteher der Dorfdisco tritt die letzten Gäste in den Hintern und selbst im Puff brennt kein Licht mehr. Was macht die pilsgestärkte Sauerländer Jugend in so einem Fall? Richtig: Eierbacken! Dabei fällt man mitten in der Nacht rudelweise in die Wohnstätte desjenigen Kumpels ein, der am wenigsten Angst vor seiner Mutter hat. Denn in Muttis Küche geht es jetzt an die Eierbestände und Bratpfannen. Wenn im Kühlschrank noch ein Bierchen lagert, umso besser. Es ist erstaunlich, wie experimentierfreudig die jungen Eierbäcker werden, wenn es um die Auswahl der Gewürze geht. Da wird auch gern mal ganz hinten im Schrank nachgeschaut, wo längst vergessene Würzdosen aus dem letzten Jahrhundert auf einem Rest Worcestersauce festkleben. Meerrettichsalz, vertrocknetes Sambal Oelek, grauer Estragon, sie alle bekommen beim Eierbacken eine faire Chance.

Bei uns zuhause gab es dabei zusätzlich noch das Eierroulette. Unsere Eier kamen nämlich direkt von einem Hof, wo der alte Knecht sie in Ställen, Gebüschen und dem angrenzenden Wald aufsammelte und bis zum Weiterverkauf aufbewahrte. Wenn er zu viele Eier fand, legte er sie in die große Schublade seiner Wäschekommode. Leider, ohne sie mit einem Haltbarkeitsdatum zu versehen. Diese Überschussware nahm er dann, um bei erhöhter Nachfrage die Lücken in den Eierkartons aufzufüllen. Niemand wusste also, welches Ei legefrisch und welches bereits Monate alt war. Da Mamma keinen Bock hatte, jedes einzelne der 20 bis 30 Eier, die wir wöchentlich verbrauchten, im Wasserbad auf Frische zu testen, wurde jedes Eiergericht zum russischen Roulette. Wer Pech hatte, musste den Schnabel mitessen.

Traditionell sieht jede Küche nach dem Eierbacken so aus wie Dresden ’45. Eier aufschlagen, Fett erhitzen, rühren und stolperfrei servieren ist jenseits der Zwei-Promille-Grenze nämlich nicht ganz einfach. Auch das lässige Wenden eines Omeletts durch Hochwerfen direkt aus der Pfanne sorgt beim Eierbacken zwar immer wieder für Szenenapplaus, endet aber meistens an der Küchendecke oder hinter einem der Hängeschränke. Interessant ist übrigens, wie unterschiedlich Mütter und Väter reagieren, wenn sie im Morgengrauen die jungen Gourmets in der Küche begrüßen. Mütter schreien: „MeinGott, wie sieht’s hier denn aus!“, versorgen Brandblasen und setzen Kaffee für alle auf. Väter schütteln mit dem Kopf, grinsen breit und holen für die letzten Aufrechten ein Pils aus dem Keller. Schließlich waren ja auch sie einmal echte Sauerländer Eierbäcker.

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