Ruth Brandt wird 100 Jahre alt

… und hatte über 40 Jahre ein Radio- und Fernsehfachgeschäft mit Werkstatt in Schmallenberg

Hin und wieder ist zu hören: „Ich will 100 Jahre alt werden!“ Ein klares Lebensziel, dessen Erreichen, wie wir wissen, von vielen, nicht oder kaum zu beeinflussenden Faktoren und Ereignissen abhängt. Ob der Wunsch auch Wirklichkeit wird, wissen wir nicht. Daher hat sich die WOLL-Redaktion sehr über einen Anruf im Frühjahr von Detlev Brandt aus Berlin gefreut. „Meine Mutter Ruth Brandt wird im Oktober 100 Jahre alt und sie hat eine Menge zu erzählen – über sich und ihr Leben in Schmallenberg.“ Bei dem Namen Ruth Brandt horcht sicherlich so mancher Schmallenberger aufmerksam auf. „Gab es nicht ein Radio- und Fernsehgeschäft in der Oststraße, das einer Ruth Brandt gehörte?“ Knapp sechs Monate vor ihrem 100. Geburtstag haben wir einen Interviewtermin mit der Schmallenbergerin in ihrer Wohnung in der Marienstraße vereinbart. Es dauert nur wenige Sekunden, dann beginnt die am 15. Oktober 1922 in Münster geborene, zierliche alte Dame zu erzählen.

Auf die Frage „Welches von den bisher 100 Jahren das schönste in ihrem Leben war?“ gibt Ruth Brandt, geborene Höing, eine wenig überraschende Antwort: „Meine Jugend wahrscheinlich.“ Die Erlebnisse der Kinder- und Jugendzeit sind fest im Gedächtnis verankert. Die Eltern von Ruth Höing hatten in Münster eine Druckerei und so wuchs die kleine Tochter praktisch bei den Großeltern vor den Toren der Stadt auf. „Zunächst bin ich in einem kleinen Häuschen ohne Wasseranschluss und elektrischen Strom aufgewachsen. Dann hat mein Großvater an der Stelle ein neues Haus gebaut, das heißt, ein Architekt trat an meinen Großvater heran, den großen Garten nebenan für den Bau von Häusern zu verkaufen. So musste das kleine Häuschen für einen Dreier-Häuserblock weichen. Eines der Häuser besitze ich heute noch.“

Wie damals für Mädchen üblich, besuchte Ruth Brandt vier Jahre die Volksschule und danach sechs Jahre das für Mädchen vorgesehene Lyceum. Ruth Brandt: „Nach der Mittleren Reife hatte ich keine Lust weiterzumachen und habe dann die Höhere Handelsschule besucht. Danach habe ich am 1. April 1939 meine erste Stelle bei der Landwirtschaftskammer in Münster begonnen. Damals hieß das Landesbauernschaft. Im September des Jahres fing der Krieg an. Viele Jungen wurden zum Militär eingezogen und viele der frei gewordenen Stellen mussten wir Mädchen übernehmen.“

Erinnerungen an Kriegs- und Nachkriegszeit

WOLL: Als der Krieg zu Ende ging, da waren Sie im besten Jugendalter. Wie sind die Erinnerungen an diese Zeit?

Ruth Brandt: Münster wurde im Krieg zu 80 Prozent zerstört. Wir sind während der Bombardierungen andauernd in den Keller gelaufen. Unser Geschäft in der Altstadt hatte nur einen kleinen Innenhof. Nicht mal so groß wie dieses Zimmer und rundherum hohe Häuser. Wenn das eingestürzt wäre, dann wären wir verschüttet worden. Also gingen wir in die nächstgrößere Straße. Da hatte der Freiherr sein Stadtbüro. Der hat die Kellerräume mit Stockbetten zur Verfügung gestellt, auf denen man liegen konnte. Nacht für Nacht. Man zog sich gar nicht mehr aus. Man behielt die Unterwäsche an, hatte die fertig gepackte Tasche immer dort stehen. Ich zog nur schnell die Schuhe an, und rannte los. Mutter und ich rannten los. Vater, der nicht mehr als Soldat an die Front musste, war der Luftschutzwart. Er musste immer patrouillieren, ob es irgendwo brannte. Das war eine absolut schlimme Zeit.

Meine Behörde war für die Ernährung zuständig und die Bauern hatten ja ein gewisses Ablieferungssoll zu leisten. Ich war in der Rechtsabteilung. Wenn ein Kreisbauernführer sich bei uns meldete und mitteilte, der und der liefert seinen Pflichtteil nicht ab, weil er eventuell etwas schwarz verkaufte oder, dass die Söhne eingezogen wurden, und der alte Herr es alleine nicht schaffte, dann fuhren wir von der Rechtsabteilung jede zweite Woche für zwei Tage zu diesen Höfen hin, um zu gucken, woran es lag. Auf die Art und Weise bin ich an meinen Führerschein gekommen. Man konnte nur noch einen Führerschein machen, wenn man Benzinmarken hatte. Und ich bekam die, weil ich mit unterwegs war und ab und zu mal das Steuer übernehmen musste. Bezahlen musste ich den Führerschein selbst, aber die Spritscheine wurden mir zur Verfügung gestellt. Wenn wir im Land unterwegs waren, lud uns der Kreisbauernführer zum Mittagessen ein. Wir freuten uns immer sehr darüber, weil man wieder etwas Richtiges zu essen bekam.

Dann wurden die Fliegerangriffe in Münster immer schlimmer. Meine Behörde wurde in den Teutoburger Wald versetzt. In der Nähe von Halle in Westfalen. In einem alten Schloss befand sich im Winterhalbjahr eine landwirtschaftliche Schule für die Bauernsöhne und -töchter. In dieses Gebäude wurden einige Abteilungen der Landesbauernschaft verlegt. Dort lebten wir wie in einer Jugendherberge. Ich war gerne dort. Es gab keinen Fliegeralarm. Wir hörten nur aus Richtung Bielefeld Einschläge, vor allem Bomben und den Alarm. Aber wir selbst bekamen nichts mit.

WOLL: Wann sind sie wieder nach Münster gekommen?

Ruth Brandt: Als der Krieg vorbei war, bin ich mit dem Fahrrad zurück nach Münster. Meine Eltern wohnten auf der Dürerstraße. Die Gartentür war kaputt. Ich bin hinten durch die Gartentür das Treppchen hinauf in die Küche gegangen. Die Freude war groß, dass ich wieder da war.

Reise ins Sauerland

WOLL: Wie ging für Sie das Leben weiter?

Ruth Brandt: Ich bin immer gerne verreist. 1947 reiste ich erstmals nach Eslohe im Sauerland. Dort habe ich meinen Mann kennengelernt.

WOLL: Warum sind sie von Münster nach Eslohe gereist?

Ruth Brandt: Durch die Landwirtschaftskammer hatte ich Kontakt mit anderen Stellen im ganzen Land. So habe ich eine Kollegin aus Eslohe gefragt, ob es Möglichkeiten gäbe, dort ein Zimmer zu bekommen. Ich wollte weg. Ich wollte immer weg. Ich bin sehr viel gereist in meinem Leben. Meine Kollegin aus Eslohe vermittelte mir ein Zimmer. Und dann habe ich mich mit meiner Jugendfreundin und Nachbarin – wir kennen uns seit sie vier war, und ich sechs, also eine lebenslange Freundschaft – auf den Weg ins Sauerland gemacht.

WOLL: Wie kam es, dass Sie dann im Sauerland geblieben sind?

Ruth Brandt: In Eslohe lernte ich meinen Mann Julius kennen. Der kam ursprünglich aus Garzweiler bei Aachen. Er war im Krieg in Eslohe im Lazarett und hatte seiner Mutter und seiner Schwester mit den zwei kleinen Kindern zum Ende des Krieges ein Quartier in Eslohe besorgt. Als Elektro- und Radiotechniker konnte er, bis der Besitzer aus englischer Gefangenschaft zurück kam, dort ein Radiogeschäft übernehmen.

Als der Besitzer zurückkam, musste Julius Brandt wieder aus dem Geschäft raus. Im Mai 1948 heirateten wir, unser Sohn Detlev kam 1949 auf die Welt. Eine passende Wohnung zu finden, war damals im Sauerland schwierig. Die Leute hatten fast alle Eigentum und in den freien Zimmern wohnten die Töchter oder Söhne. Mietwohnungen gab es nicht. Wir haben zunächst in einer kleinen Schreinerei an der Hauptstraße in Wenholthausen gewohnt. Die Schreinerei gibt es heute nicht mehr, das Haus steht aber noch. Da haben wir zwei Zimmer und einen Abstellraum bekommen. Ich durfte in der Waschküche meine Wäsche waschen. Richtig schön altmodisch mit Wäschepott. Und zum Spülen ging man an die Wenne. Da gab es auch einen öffentlichen Platz, an dem man in der Wenne seine Wäsche spülen konnte. Wenholthausen war natürlich für ein Radiofachgeschäft viel zu klein. Mein Mann ist also losgefahren und hat versucht, etwas in Schmallenberg zu bekommen. Er überredete eine Frau Leismann, ihr Wohnzimmer abzugeben, sodass wir da ein Geschäft aufmachen konnten. Als das Geschäft gut lief, bauten wir nach hinten in den Garten eine Werkstatt an. Eine Werkstatt war früher wichtig. Die Fernseher wurden noch repariert. Es waren ja Röhrengeräte. Der Ruf eines Radiogeschäft festigte sich über die Werkstatt, weil man in der Lage war, zu reparieren. Nicht einfach wie heute: kaufen, kaputt, wegschmeißen. Damals kostete ein Schwarz-Weiß-Fernseher über tausend Mark.

Über die ersten Jahre in Schmallenberg kann Ruth Brandt viel erzählen. Wie ihr Mann zunächst täglich von Wenholthausen nach Schmallenberg gefahren ist, wie sie die erste Wohnung in Schmallenberg gefunden haben, und wie sich das Geschäft immer mehr entwickelte. Um überhaupt in Schmallenberg das Fernsehsignal zu empfangen mussten bis zu sieben Meter hohe Antennen auf die Dächer gebaut werden. Das war ein Geschäft. Die Erinnerungen an große Übertragungen, wie die Krönung der Königin Elisabeth von England sind noch wach.

Ruth Brandt: In Schmallenberg wurden zunächst nicht so viele Antennen für den Fernsehempfang errichtet. Die Schmallenberger hatten zwar alle eigene Häuser. Da in den letzten Kriegstagen noch viele Häuser zerstört worden waren, steckten die Menschen hier das Geld zunächst in die Wiederherstellung der Häuser. Das merkten auch wir und verkauften daher viel nach Meggen. Dort war die Grube Sachtleben und die Metallindustrie. Die Leute verdienten gut. Sie lebten in Werkswohnungen und mussten ihre Wohnung nicht renovieren, denn das machte das Werk. Die hatten das Geld flüssig. Wir bekamen einen Werksauftrag, der uns viele Kunden brachte. Den ersten Fernseher, den wir in Schmallenberg verkauften, bekam der Habbels, der damals noch ein Hotel hatte. Den nächsten Fernseher verkauften wir an eine Gastwirtschaft in Holthausen. Die hatte dann, wenn Fußballspiele waren, die Bude voll. So fing das an.

Als Frau ein Geschäft führen

1958 übernahm Ruth Brandt die Leitung des Geschäftes und der Werkstatt in Schmallenberg. Ihr Mann führte ein weiteres Radio- und Fernsehgeschäft in Warstein.

Ruth Brandt: Damals war es aber noch so, dass Frauen nicht einfach ein Geschäft führen durften. Zunächst musste ich einen Meister haben. Das war Herr Demmerling aus Frielinghausen. Herr Demmerling war zwei Jahre in Amerika in Gefangenschaft gewesen, hatte Abitur bei den Patres in Meschede gemacht und stand berufslos da. Er hat dann eine Lehre bei meinem Mann gemacht und ich fragte ihn schließlich, ob er sich zutraute, dass wir das Geschäft zusammen machen. Er musste noch eine Meisterprüfung machen. Wir haben eine Ausnahmegenehmigung für zwei Jahre bekommen – und in den zwei Jahren musste er die Meisterprüfung machen.

Quelle: privat
Ruth Hoing (Brandt) bei der Gartenarbeit (1941)

WOLL: Das war in den 60er und später in der 70er Jahren, als es boomte?

Ruth Brandt: Es lief gut. Wir waren, glaube ich, bekannt, weil wir sehr gute und pünktliche Reparaturen machten. Und wenn man sieht, es geht voran, macht das ja auch Spaß.

WOLL: Wie lange haben Sie das Geschäft betrieben?

Ruth Brandt: Über 30 Jahre. Dann war mein Mitarbeiter, Herr Didam soweit. Der hatte die Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden und wollte das Geschäft und die Werkstatt gerne übernehmen. Wir sind zusammen zur Industrie und Handelskammer nach Arnsberg gefahren, und haben uns da beraten lassen, wie man so eine Übertragung macht. Herr Didam hat das Geschäft mit den Messgeräten und allem übernommen. Wir sind uns einig geworden und Herr Didam führte das Geschäft noch zehn Jahre erfolgreich weiter. In der Zeit fing allerdings auch der Verkauf von Radio- und Fernsehgeräten sowie den anderen Geräten durch die Versandhäuser an. Ich bin ganz ehrlich: Wir haben die guten Zeiten erlebt. Früher gab es eine Preisbindung. Ob sie den Fernseher in Hamburg, Berlin oder in Schmallenberg kauften, der kostete überall gleich viel und man verdiente 30 Prozent. 30 Prozent von 100, überlegen Sie mal! Es war kein Kunststück, da Geld zu verdienen.

WOLL: Gab es Wettbewerber in Schmallenberg und Umgebung?

Ruth Brandt: Ja, aber das war nur die Konkurrenz vor Ort. Ich habe dann natürlich auch Schallplatten verkauft. Das war immer ein gewisses Risiko, welche Platten gekauft wurden und welche nicht. Da habe ich schon einige Tricks angewandt. Dem Großhändler habe ich gesagt: Wenn ich Ihnen jetzt 20 oder 30 abnehme, dann müssen Sie aber fünf zurücknehmen, die nicht laufen. Die Schallplatten habe ich deshalb geführt, weil damit die Laufkundschaft kam. Eine Single-Platte mit zwei Songs drauf kostete sechs DM. Wir haben in der Zeit, in der ich das Geschäft führte, die Hälfte des Jahresumsatzes in den drei Monaten Oktober, November, Dezember gemacht. Das waren reine Geschenkartikel. Das erlaubte man sich nur für solche Anlässe. Und dann hatten wir das große Glück, als alle Leute einen Schwarz-Weiß-Fernseher hatten, da kamen die Farb-Fernseher. Da gab es nochmal einen Boom.

WOLL: Ein sehr bewegtes Unternehmerinnenleben und dabei noch drei Söhne großgezogen!

Ruth Brandt: Dabei hat Elisabeth Mergheim aus Oberkirchen geholfen, die war 18 Jahre bei uns. Sie hat den ganzen Haushalt geschmissen. Sie war eine Seele von einem Menschen. Mein ältester Sohn Detlev ist 1949 geboren. Dann kam Volker 1952. Und schließlich, 1954, Gernot. Keiner wollte das Geschäft und die Werkstatt übernehmen.

WOLL: Sie erzählten, dass in ihrer Familie immer das Druckgewerbe zuhause war.

Ruth Brandt: Mein Vater war Buchdrucker. Mein Großvater war auch Buchdrucker bei der Firma Buschmann in Münster. Er war ein Schweizer Degen. Schweizer Degen durfte man sich nennen, wenn man sowohl das Setzen als auch das Drucken beherrschte. Ich habe mich mal schlau gemacht, woher dieser Ausdruck kommt. Ein echter Schweizer Degen, mit dem kann man schneiden und stechen. Also eine Doppeltätigkeit.

WOLL: Darf man fragen, was Sie in ihrer Freizeit gemacht haben? Was war ihr Hobby?

Ruth Brandt: Zum einen der SGV, der Sauerländer Gebirgsverein – Ortsgruppe Schmallenberg. Ich bin seit über 60 Jahren Mitglied im SGV, und bin viel gewandert. Diese Sonntagswanderungen, aber auch diese 7-Tage-Touren, die wir damals oft gemacht haben. Die erste 7-Tage-Tour habe ich mit Herrn Wellendorff auf dem Rheinsteig gemacht. Genau in dem Jahr, als die Grenze fiel.

Die fast 100-jährige, kommunikationsfreudige Schmallenberger Unternehmerin erzählt fast zu jedem Stichwort oder Ereignis eine interessante Geschichte. Akribisch hat sie in zahlreichen Fotoalben große Familienfeiern und andere Ereignisse mit schön inszenierten Fotos festgehalten. Bei jedem Satz merkt man Ruth Brandt an, dass es ihr Freude macht, über sich und ihr bewegtes, manchmal aufregendes Leben zu erzählen. Ihre Söhne und die ganze Familie geben ihr Halt und Unterstützung, damit sie, wie schon während ihres ganzen Lebens, selbstbestimmt den Alltag in ihrem Haus mit Blick über Schmallenberg in Würde und Ruhe erleben kann. Die Planungen für den 100. Geburtstag in einem Schmallenberger Hotel werden dabei in den kommenden Wochen ebenfalls eine Rolle spielen. „So Gott will, wird das, wie schon zum 90., 95. oder anderen Geburtstagen eine schöne Feier mit der Familie und Freunden, auf die ich mich sehr freue“, sagt die Münsteranerin in Schmallenberg, Ruth Brandt.