Richard Wagner-Flügel in Kohlhagen

Das zweite Leben eines Stückes Musikgeschichte

Warm und weich – fast singend – klingt der Flügel im Geistlichen Zentrum Kohlhagen. Pater Jürgen Heite ist von seinem ungewöhnlichen Klang begeistert: „Er besticht durch ein warmes, sonores Timbre, das ihn für die authentische Interpretation der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts prädestiniert.“ Der Klavierstimmer Robert Rakowitz ergänzt: „Flügel von heute klingen sauber und laut, aber nicht unbedingt schön. Früher hat man mehr auf Tonschönheit geachtet.“ Ein verschlungener Weg hat ein musikalisches Kleinod nun auf den Kohlhagen bei Kirchhundem geführt, bei dem ein ganz besonderer Künstler über die Tonschönheit gewacht hat: Richard Wagner. Aber nicht nur diese Ursprünge machen den Flügel zu etwas Besonderem. Er hat auch einige faszinierende Menschen zusammengeführt, die mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, dass die Klänge des 19. Jahrhunderts jetzt auf dem Kohlhagen wieder lebendig werden können. Wie klang die Musik der Romantik in der Zeit der Spätromantik? Kohlhagen gibt heute die Antwort.

Wagners Klangideal

Der Weg des Flügels begann im heutigen Wuppertal. Seit 1794 fertigte dort die Firma Ibach Klaviere und Flügel, von denen einige Musikgeschichte schrieben. Auf Anregung von Franz Liszt ließ sich Richard Wagner in Barmen einen Flügel konstruieren, der ganz seinen klanglichen Vorstellungen entsprach. Es entstanden mehrere Instrumente, die die Firma Ibach dem Künstler auch ins Ausland nachsandte. An einem dieser Instrumente komponierte er Teile des Parsifal. Einer Anekdote zufolge spielte er auf einem anderen Instrument in Venedig am Abend vor seinem Tod für seine Frau Cosima die „Klage der Rheintöchter“. Dieses Instrument wurde im Zweiten Weltkrieg leider zerstört. Zum Gedächtnis an den von ihm sehr verehrten Künstler fertigte P. A. Rudolf Ibach mit Genehmigung der Familie Wagner wenige weitere Salonkonzertflügel nach Wagners Vorstellung und gab ihnen den Ehrennamen „Richard Wagner-Flügel“. Bis vor kurzem waren nur noch drei spielbare Instrumente dieser Art bekannt. Eines davon steht im Franz-Liszt-Haus in Bayreuth, ein zweites bei einer Künstlerfamilie in England und ein drittes in Frankfurt. Und dann tauchte ganz überraschend in einer Privatwohnung in Siegen ein vierter Richard Wagner-Flügel auf, der nun seit ein paar Monaten im Geistlichen Zentrum Kohlhagen steht.

Der verschlungene Weg zum Kohlhagen

Seine aufwändige Bauart machte den Richard Wagner-Flügel schon in seiner Entstehungszeit zu einem sehr kostspieligen Instrument, das sich nur wenige Menschen leisten konnten, darunter wohl ein Siegener Fabrikant der Gründerzeit. Der 1895 gebaute Flügel wiegt 420 Kilogramm, hat einen massiven Gussrahmen, um 18 Tonnen Zugkraft auf den Saiten zu erlauben, und ist aus edelsten Hölzern gefertigt, die Dämpfer zum Beispiel aus Palisander. Sein Design folgt den Idealen der illustren Kundschaft der Kaiserzeit. „Hoflieferant seiner Majestät des Kaisers und Königs“ steht über der Klaviatur. Nach dem Ersten Weltkrieg war dieser Stil nicht mehr gefragt. Viele Instrumente des 19. Jahrhunderts gingen damals verloren. Der heute auf dem Kohlhagen stehende Flügel hatte Glück. Ein Konzertpianist nutzte ihn zuhause für Übungszwecke. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte das Instrument in den Besitz der Familie des späteren Kirchhundemer Pastors Georg Wagener. Bei Mutter und Schwester des Geistlichen stand er über Jahre unbeachtet in einer Siegener Wohnung. Als die Pallottiner Patres Jürgen Heite und Siegfried Modenbach ein Klavier für ihr Geistliches Zentrum Kohlhagen suchten, stifteten die Angehörigen von Pastor Wagener das außergewöhnliche Instrument, auf Anregung von Pastor Reinhard Lenz.

Alte Klänge erwachen zu neuem Leben

Der Zahn der Zeit hatte intensiv an dem Flügel genagt. Im Jahr 2007 schloss die Firma Ibach ihre Pforten für immer, sodass eine Überholung des Instrumentes im Werk nicht mehr möglich war. Glücklicherweise gibt es noch einen ehemaligen Angestellten der Firma Ibach, der in Bergneustadt als selbstständiger Klavierstimmer und Pianist arbeitet: Robert Rakowitz. Der 74-Jährige war das Kind einer alleinerziehenden Mutter im Ruhrpott der Nachkriegszeit. Als er zum ersten Mal Klaviermusik im Radio hörte, packte ihn ein Zauber, der sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte. Er brach die Schule ab und zog schon im Alter von 14 Jahren nach Barmen, um Klavierbauer zu werden. Die Kosten der Ausbildung sparte er sich buchstäblich vom Mund ab. Gelegentlich arbeitete er als Pianist und machte sich später als Klavierstimmer und -restaurator selbstständig. Seine große Leidenschaft besteht darin, alten Instrumenten wieder zum perfekten Klang zu verhelfen. Seine Arbeit führte ihn in viele Länder der Erde zu musikgeschichtlich bedeutenden Instrumenten, wie zum Ibach-Flügel Arnold Schönbergs nach Amerika. In seiner unvergleichlichen, humorvollen Art ist er ein Füllhorn von Anekdoten und Geschichten rund um Kleinode aus der Musikgeschichte und Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen, die diese Kleinode zum Leben erwecken können. Für das Richard- Wagner-Fundstück konnte er sich sofort begeistern. Zuerst galt es, den Zustand zu sichten. Das Elfenbein der Tasten löste sich, der Filzbelag der Hämmer war bröckelig und die Saiten waren ausgeleiert. In seiner Werkstatt in Bergneustadt hat Robert Rakowitz die Mechanik des Flügels vollständig zerlegt, gereinigt und neu zusammengesetzt, neue Saiten von gleicher Art und Qualität wie in der Entstehungszeit des Flügels eingebaut und jeden einzelnen Hammerkopf sorgfältig intoniert.

Besondere Läuse sorgen für neuen Glanz

Auch das Gehäuse des Flügels wies Blessuren auf. Der schwarze Lack war verkratzt und verblichen, die Ecken waren abgestoßen und die Rollen locker. Für die äußerliche Kur reiste der Flügel in eine Werkstatt nach Kirchhundem-Flape. Dort restauriert Meinolf Kleffmann mit unendlicher Geduld, Fingerspitzengefühl und einem gewaltigen Schatz an historischen Handwerkskenntnissen alte Möbel. Der gebürtige Sauerländer aus Herrntrop machte nach einer Tischlerlehre eine Ausbildung zum geprüften Restaurator im Tischlerhandwerk, setzte seine Ausbildung mit Hilfe eines Stipendiums in Venedig fort und arbeitete lange beim bekannten Sauerländer Antiquitätenhändler Franz Kaiser in Elspe. Schon vor Jahren machte Meinolf Kleffmann sich als Möbelrestaurator selbstständig. Seine Überzeugung: „Das Allerwichtigste bei der Möbelrestaurierung ist Geduld“, denn die Künstler und Handwerker vergangener Jahrhunderte hätten sich viel mehr Zeit für ihre Arbeit genommen, als das heute üblich sei. Das gilt natürlich auch für den Richard Wagner-Flügel. „Diese Sicherheit und dieser Geschmack, mit dem das geplant und gemacht worden ist, ist unübertroffen.“ Der Schwerpunkt der äußerlichen Restaurierung des Richard Wagner-Flügels war das Aufbringen einer neuen Schellack-Politur. Schellack gibt seit Jahrhunderten den wertvollsten Möbeln ihren besonderen Glanz. Schellack besteht aus den Ausscheidungen einer besonderen Art von Läusen. Lackschildläuse leben vor allem in Indien, verdauen Pflanzensäfte und hinterlassen auf den Pflanzen jenen Lack, der ihnen den Namen gegeben hat. Für die großen Oberflächen des Flügels hat Meinolf Kleffmann den Schellack selbst schwarz eingefärbt und dann in unzähligen, behutsamen Arbeitsgängen von Hand aufgetragen. Das kleinste Staubkorn muss dabei vermieden werden, damit die perfekte, gleichmäßig schwarze Oberfläche entsteht.

Tafelabende und authentische Klavierkonzerte

Nach Einzug des Flügels auf dem Kohlhagen fand die aufwändige Restaurierung ihr Ende, indem Robert Rakowitz in mehreren Sitzungen das Instrument perfekt stimmte und den Klang an den akustisch für Konzerte besonders gut geeigneten Raum anpasste. „Extra für diesen Flügel haben wir ein neues Veranstaltungsformat geschaffen“, erzählt Pater Heite, „die Kohlhagener Tafelabende – eine Mischung aus gemeinsamem Essen, Flügelmusik und anregenden Gesprächen zu jeweils einem anderen Thema, zum Beispiel Freundschaft.“ Zweimal im Jahr soll es auch Klavierabende geben. Vor allem die Musik des 19. Jahrhunderts wird dabei in einer ungewöhnlich authentischen Weise wieder lebendig. Die Termine sind auf der Internetseite des Geistlichen Zentrums Kohlhagen zu finden. Der nächste Tafelabend findet am 06.11.2024 um 19 Uhr statt (Anmeldung erforderlich: www.geistliches-zentrum-kohlhagen.de).