Peter Schlinkert, der Seher vom Möhnetal

Quelle: Michael Erdmann

Von Mühlheim bis Himmelpforten, in den Orten Berlingsen, Brüllingsen, Delecke, Drüggelte, Ellingsen, Echtrop, Günne, Körbecke, Stockum und Wamel – bei Jung und Alt im Möhnetal kannte man die Prophezeiungen des Sehers Peter Schlinkert. Weit über die Landesgrenzen hinaus wurden sie verbreitet. Sein Charisma muss wohl deutlich spürbar gewesen sein. In heutiger Zeit wäre er wohl zum Medienstar avanciert. Trotzdem verlor Peter Schlinkert nie den Boden unter den Füßen. Als Sohn „von ehrlichen Bürgersleuten“ um 1730 in Meschede geboren, hatte Schlinkert zunächst das Seilerhandwerk gelernt. Im Siebenjährigen Krieg leistete er unter der Standarte des Kaiserlichen Kürassierregiments unter Führung des österreichischen Feldherren Serbelloni seinen Kriegsdienst.

Während seiner Dienstzeit unter dem Kurfürsten, dem Kölner Erzbischof Clemens August I. von Bayern, der bekanntlich gerne von seinem Hirschberger Jagdschloss aus unterwegs war, ereignete sich für Schlinkert etwas, das sein Leben veränderte: Der Fürst wollte gerade in seinen Wagen steigen, um eine Jagdpartie zu machen, als Peter Schlinkert festen Blickes vor ihn hintrat und ihn warnt, „nun und nimmermehr“ zu fahren, weil „ein Schuss durch den Wagen geschehen wird, der auf Hochdieselben gemünzt ist“. Der Kurfürst stutzte zunächst, ließ Schlinkert vorläufig festnehmen – und bestieg ein anderes Fuhrwerk. Der ursprünglich für den Fürsten bestimmte Wagen war gerade eine Stunde weg, als der ominöse Schuss tatsächlich durch das Verdeck des Wagens hindurch fiel. Personen kamen nicht zu Schaden, aber Peter Schlinkert wurde daraufhin sofort freigelassen. Der erstaunte Fürst zahlte ihm zudem eine jährliche Pension von 25 Talern, die er bis an sein Lebensende erhielt. Auch der Bitte Schlinkerts um Entlassung aus dem Militärdienst kam er nach.

Von dem Geld hätte Peter Schlinkert natürlich gut leben können. Aber Müßiggang war nicht sein Ding. Also gedachte er des alten deutschen Sprichwortes „Handwerk hat goldenen Boden“ und nahm seinen Beruf als Seiler wieder auf. Die Dörfer und Höfe des Haarstrangs und Möhnetals erschienen ihm als gute Absatzquellen. Und so zog er denn von einem Hof zum nächsten und verkaufte seine Pflugleinen und Windseile, die er, wie es hieß, „redlich, fleißig und treu im Schweiße seines Angesichts“ gefertigt hatte.

Schlinkert war nicht nur ein vortrefflicher Seilmacher, er verstand es auch, die Familien seiner Arbeitgeber am traulichen Herdfeuer gut zu unterhalten. Er erzählte von den Feldzügen, von den Eroberungen der Serbelloni-Kürassiere und von seinen Kriegskameraden. Bei solchen Gelegenheiten stellte der Hausherr auch gern mal einen Schnaps auf den Tisch, den der Handwerker nicht verschmähte. Selbst wenn er in seltenen Fällen mal einen Schluck über den Durst genommen hatte, so litten doch seine Berufspflichten nicht darunter. Gern schäkerte er mit der Jugend, machte auch Scherze – kurzum er war ein gern gesehener und vortrefflicher Unterhalter.

Am wohlsten fühlte sich Peter Schlinkert, der schon früh Witwer geworden war, auf dem Mühlenschulzen-Hof in Stockum. Dieser Hof wurde in den Schatzungslisten des 16. Jahrhunderts erwähnt, die Stockumer Mühle bereits um 1300. Viele Jahre später musste der Hof Mühlenschulte – ebenso wie rund 20 Häuser unterhalb Stockums – dem 1913 aufgestauten See weichen. Die Grundrisse der einst versunkenen Anwesen treten übrigens in sehr seltenen Fällen wieder ans Tageslicht. Aber zurück in die Vergangenheit: Auf dem Mühlenschulzen-Hof wurde Peter Schlinkert nicht nur gut bezahlt, sondern er wurde auch gut und freundlich bewirtet. Man betrachtete ihn fast schon als zum Hof zugehörig. Sein Rat auch zu landwirtschaftlichen Fragen wurde hoch geschätzt.

Von Stockum aus trieb ihn oftmals ein „ …unnennbares Etwas, beim Zwielichte oder im nächtlichen Dunkel jedem unwiderstehlichen Hange zu folgen, der ihn die Höhen der Haar, an die Ufer der Möhne oder in die schauerliche Waldeinsamkeit der benachbarten Drostheide führte“. Mit Schlinkerts Weissagungen befasste sich Ludwig F. von Schmitz in seinem Buch „Peter Schlinkert. Seher im Möhnethale (1850)“ sehr intensiv. Dort ist auch von der „Schlacht am Birkenbaum“ (zwischen Unna, Hamm und Werl) zu lesen. Ein Zeitgenosse Schlinkerts, der Seher „Bauer Jasper“ aus Dortmund sah sie ebenfalls voraus: „Am Birkenbaume wird die Armee des Westens gegen die Armee des Ostens eine furchtbare Schlacht kämpfen und nach vielen blutigen Opfern den Sieg erringen. Nach diesen Tagen des Unglücks und Jammers kehret aber Freude und Frieden in Deutschland ein…“

Am 22. Januar 1854 wollen zahlreiche Büdericher gesehen haben, dass gegen Abend ein riesiges Heer, mit Infanterie, Kavallerie und zahlreichen Wagen, auf der Haar von Schlückingen nach Schafhausen gezogen ist. Das Ereignis wurde auch durch die überregionale Presse aufgenommen und schließlich sogar durch einen, durch die Regierung beauftragten Professor untersucht. Ob Schlinkert in seiner Vision diese Truppenbewegung als Schlacht gesehen hat und nicht eine künftige, ist fraglich. Die Weissagung einer Schlacht am Birkenbaum gibt es auch in anderen Quellen. Bereits 1701 wurde in einer von Jesuiten aus Köln veröffentlichten Prophezeiung darauf hingedeutet: „Am Birkenwäldchen, nahe Budberg, wird dieses Treffen beginnen“.

Der Mythos der Schlacht am Birkenbaum beziehungsweise -wald wurde vielfach aufgegriffen. Die Stadt Werl hat beispielsweise eine Radtour danach benannt. Schlinkert wird noch eine andere Voraussage zugewiesen und zwar die einer „letzten großen Schlacht auf deutschem Boden bei dem Dorfe Schmerlecke“. Aus historischer Sicht sind die Geschichten des Seilermeisters wohl als gute Unterhaltung seiner Kundschaft und Bekannten zu interpretieren. In dieser Zeit dürften die Orte des Hellwegs wie Budberg, Holtum oder Schmerlecke im Möhnetal zwar bekannt gewesen, aufgrund der nicht vorhandenen Mobilität aber eher selten oder gar nicht von den Möhnetalern, vielfach Leibeigene, aufgesucht worden sein. Sie waren im wahren Sinne des Wortes „über dem Berg“. Die ständigen Truppenbewegungen der alten Heeresstraße waren damit einem charismatischen Erzähler wie Schlinkert wohl guter Stoff, um Prophezeiungen kundzutun und sich einen bis heute bestehenden Ruf zu erarbeiten. Ob man die Weissagungen des Sehers nun für bare Münze nimmt, ist jedem Einzelnen überlassen. Zutreffende Voraussagen über Brände auf diversen Gehöften in Echtrop und auch dem Mühlenschulzen-Hofe Jahrzehnte nach Schlinkerts Tod werden ihm ebenfalls zugesagt. Eine bemerkenswerte Persönlichkeit war der Seher auf jedem Fall.