Statt Italien ab nach Oberhundem – Mit zwei „Ruhris“
Deutschland neu entdecken – so lauten im Sommer 2020 überall die Schlagzeilen. In der Tat: Über viele Jahre fuhren wir mit Andrea und Fritz Holbeck aus Langenberg immer im Sommer nach Apulien, in den südlichsten Zipfel, den Absatz Italiens – diesmal fiel das alles wegen Corona ins Wasser! „Dann kommt doch für einen Kurz-Trip ins Sauerland“, so unser Vorschlag für die beiden in Essen geborenen „Ruhris“. Gesagt, getan. Mittags treffen wir uns in Oberhundem am „Gasthof zu den Linden“, einem der ältesten noch erhaltenen Gasthöfe weit und breit: 1637 erstmals urkundlich erwähnt und vor über 200 Jahren nach einem Brand wieder neu aufgebaut. Aus schönem Sauerländer Fachwerk- und wetterfestem Schieferstein, bis heute so erhalten. Die alte Gaststube unverändert, der alte Kohleofen in der Küche ebenfalls. Gastfreundschaft wird hier gelebt.
Andrea und Fritz, meine Frau und ich sitzen bei strahlendem Sonnenschein im neuen Biergarten im Schatten der Linden und schauen auf die schöne Dorfmitte von Oberhundem: mit der uralten Kirche und dem davor liegenden Pastorsgarten. Die Bienen hört man hier um die Wette summen. Nur selten fährt ein Auto vorbei. Andrea, über viele Jahre Kindergärtnerin, immer gut gelaunt, immer für einen Spruch gut, immer unüberhörbar, flüstert diesmal: „Dat is ja so was von ruhig hier …“ – stimmt.
Aferdita, die freundliche Wirtin, kommt an den Tisch und empfängt uns. Sie hat eine bewegende Geschichte hinter sich: Als der Kosovo-Krieg tobte, verschlug es ihre Familie nach Oberhundem. Dann geschah etwas höchst Menschliches: Gaby Brüggemann, die Wirtin vom „Gasthof zu den Linden“, alleinstehend und von morgens früh bis abends spät um das Wohl ihrer Gäste bemüht, adoptierte sie, damit sie nicht abgeschoben werden konnte. Von da an lernte Aferdita „Gastwirtin“ und „Sauerländer Gastfreundschaft“ kennen und schätzen – und Verantwortung zu übernehmen. Heute setzt sie das Erbe von Gaby, die inzwischen verstorben ist, erfolgreich fort. Inzwischen heißt sie Aferdita Greitemann. Sie ist verheiratet mit Dirk Greitemann, einem Schreiner, die beiden haben zwei kleine Kinder.
Dank unserer Leibesfülle haben Fritz und ich etwas Mühe, in Aferditas kleines Auto zu steigen. Irgendwie klappt das dann doch, und sie bringt uns vier zum Rhein-Weser- Turm. Von da wandern wir die nächsten drei Stunden durch den sonnendurchfluteten Wald und sind plötzlich hin und weg. Eine unglaubliche Stille. Hier und da Vogelgezwitscher, das sich von allen Seiten mischt und sich wie ein kleines Waldkonzert anhört. Ab und zu zwei, drei Wanderer, die uns entgegenkommen und freundlich grüßen.
„Ne, wat is dat schön hier!“ kommt es aus Andrea heraus und ihr Mann Fritz, Verwaltungsangestellter bei der Bundeswehr und jetzt in Rente, setzt noch kurz einen drauf: „Dat is et wirklich!“ Unterhalb des Rothaarsteigs laufen wir die gut vier Kilometer durch den schönen Mischwald in Richtung Oberhundem. Vorbei am sogenannten „Alpenhaus“ in 650 Metern Höhe, erbaut 1934 als „Sauerlandhütte“ des Deutschen Alpenvereins von der Sektion Essen. Der Ruhrpott lässt grüßen! Vorbei am Wanderweg der Deutschen Einheit, der über 1.080 Kilometer von Görlitz bis Aachen hier entlangläuft. Vorbei an einer grünen Wiese, wo uns sechs – wie am Schnürchen aufeinander gereihte – hellbraune Milchkühe allesamt ihren „Allerwertesten“ entgegenstrecken. Dabei dreht eine halb ihren Kopf in unsere Richtung, als wolle sie in den Corona-Zeiten sagen: „Ihr könnt uns mal! Wir bleiben, wo wir sind …“
Das sagen wir uns auch. Glücklich und zufrieden legen wir uns paarweise auf die wellenförmigen Schaukel-Holzbänke im Kurpark und baumeln entspannt in den blauen Oberhundemer Abendhimmel. Vorher gab’s auf der Kurhaus-Terrasse frischgebackene Waffeln mit Kirschen und Schlagsahne und – Cappuccino. Italien lässt grüßen. Aber keiner von uns vermisst in diesem Moment den sonnigen Süden. Es ist einfach nur schön. Wir lassen die Seele baumeln und erfrischen uns: erst mit den Füßen im eiskalten Felsquellwasser im kleinen Tret-Becken, dann mit den Armen im hölzernen Wassertrog. Herz, was willst du mehr! Das wird mir in diesem Moment so richtig bewusst.
Abends gibt’s leckeres Essen im Gasthof zu den Linden. Fritz und ich teilen sich die besten Dicke-Bohnen der Welt mit den herrlichsten Mettwürsten weit und breit. Andrea nimmt Omelett mit frischen Pfifferlingen und Salat. Meine Frau entscheidet sich für selbstgemachte Gnocchi mit Pfifferlingen und Zander. Allen schmeckt es. „Sehr bodenständig und sehr gut“, lobt ein Düsseldorfer Koch, der mit seiner Frau in Oberhundem Urlaub macht und am Nachbartisch in der kleinen gemütlichen Gaststube sitzt, die ländliche Küche der Greitemanns.
Während Fritz und Andrea nur die Stiege hoch in ihr Zimmer müssen, verbringen meine Frau und ich die Nacht in einem der beiden neuen Baumhäuser im Garten hinter dem Gasthof. Was für ein Erlebnis! Klein, aber fein. Sehr gemütlich. Alles aus Holz. Essen und Küche aus Apfelholz, Böden in Eiche, Innenwände Fichte, Außenwände Lärche, Fenster und Haustür Kiefer, Treppen Eiche. Aber auch Kirsche, Birne, Walnuss und Pflaumen sind geschmackvoll verarbeitet. Und die Stämme innen sind aus Totholz der Fichte, die es ja schwer hat in diesen Zeiten. Wir schlafen bei offenem Fenster mit einem unglaublichen Blick auf den klaren Sternenhimmel bei bester frischer Luft ein und wollen am anderen Morgen am liebsten in den rot-weiß karierten Federbetten liegen bleiben.
Stattdessen gönnen wir uns an unserem letzten Urlaubstag mit unseren beiden „Ruhris“ noch kleine kulinarische Abstecher zu Deimanns nach Schmallenberg, zu Schüttes und Henkes nach Oberkirchen, um dann zum Kahlen Asten zu starten. Noch nie waren Fritz und Andrea auf dem bekanntesten Berg Nordrhein-Westfalens. Als wir ankommen, sind die beiden nur noch baff. Denn der Asten zeigt sich von seiner allerbesten Seite, wie ich ihn selber nur selten erlebt habe: bei strahlendem Sonnenschein, knall-blauem Himmel mit kleinen weißen Wolken, einer hoch-sommerlichen Hochheide und einer glasklaren Sicht bis zum Brocken auf der einen und weit über das Rheinland und Ruhrgebiet hinaus auf der anderen Seite. Mit einer grasenden Schaf- und Ziegenherde und einigen glücklich wirkenden Menschen beim Innehalten. Wir zählen dazu.
Diesen Moment zu genießen, war außerordentlich wohltuend und machte mir bewusst, wie schön doch unsere Region ist, aus der ja auch ich stamme. Als wir dann auf einer Bank sitzen und in der Abendsonne diesen einzigartigen Rundumblick genießen, bringt es Andrea im besten Ruhrpott- Deutsch nochmal auf den Punkt: „Ne – wat is dat schön hier. In Sauerland!“