Mein Dorf im Wandel der Zeit

Sallinghausen am Fuße der Homert

Jahrmillionen hat die Natur gebraucht, um dieses Tal und diese Höhen, die sich vor meinem Auge ausbreiten, zu gestalten und die Landschaft zu formen. Doch der Mensch, wir und unsere Vorfahren, waren es, die diese Landschaft verändert, der Umwelt immer wieder ein neues Kleid gegeben haben. Und so wird mir bewusst: Auch ich habe in diesem Ort im Tal der Salwey meine Spuren hinterlassen, indem ich gebaut, gepflanzt und gesät, mein Leben eingerichtet habe.  Der Mensch verändert sein Umfeld, schafft „seine“ Kulturlandschaft, so, wie seine Bedürfnisse es benötigen oder fordern.  Aber es sind nicht nur die sichtbaren Veränderungen, es sind auch die Lebensumstände und Lebensformen, die einem ständigen Wandel unterworfen sind.  

Dies ist ein Versuch, den Bogen zu spannen, vom „Einst zum Jetzt“, indem im Zeitraffer auch die Veränderung einer dörflichen Struktur über die Jahrhunderte bewusst wird.  

Der Ursprung  

Die Menschen, die einst dieses fruchtbare Tal urbar machten, erkannten die vorhandenen und für ihre Besiedlung günstigen Verhältnisse. Hier im unteren Tal der Salwey machten sie sich die Wasserkraft zunutze. Urkundlich erwähnt wurde erstmals 1467 die Großherzogliche Mühle, die als Kornmühle erbaut und in späterer Zeit um eine Sägemühle erweitert wurde. Schon bei Niedereslohe, unweit der Einmündung des Essel-Baches in die Salwey, zweigt der „Mühlengraben“ einen Teil des Fließgewässers ab, um es auf die Schaufeln eines Wasserrades zu lenken. In alten Urkunden wird dieses als „Kirchenwasser“ bezeichnet.   Die Bewohner weiterer vier Höfe, deren ursprüngliche Entstehung im Dunkel der Geschichte liegt, siedelten hier und wurden sesshafte Bauern. Der größte Hof war einst der Schultenhof, dessen Ländereien bis an den Mündungsbereich an die Talfluren des Wenne-Flusses angrenzten. Unweit davon liegt das Gut Wenne, welches traditionell zur Nachbarschaft gehörte. Die Bewohner des Ortes leisteten in früherer Zeit Hand- und Spanndienste für das Gut. Eine Überlieferung erzählt, dass ein Reiter vom Gut am nahen „Remberg“ erschien und von dieser Anhöhe aus in sein Horn blies. Das war das   Signal für die Dorfbewohner, dass sie für Hand- und Spanndienste zu erscheinen hatten. Im Jahre 1825 erfolgte die endgültige Aufhebung aller grundherrlichen Rechte durch die preußische Regierung. Die Grund- und Leibherrschaft wurde nach einem langen Prozess der Bauernbefreiung abgelöst und das „Adelsprivileg“ für alle Zeit beseitigt.  

Grund- und Bodennutzung  

Auf den den Höfen naheliegenden Flächen im Tal wurde Wiesenbewirtschaftung betrieben und Grünfutter für das Vieh geerntet. In den Wintermonaten wurden sie geflutet.  Mit Hilfe von Schlachten wurde das Wasser der Salwey in Gräben auf die Flächen geleitet. So setzten sich die im Bachwasser mitgeführten natürlichen Schwebstoffe als Düngemittel auf den Wiesen ab.  Kühe und Schafe wurden gehütet. Der Dorfschäfer war für das Wohl der ihm überlassenen Tiere verantwortlich und wurde dafür von den Bauern entlohnt. Auch er besaß im Dorf ein kleines Haus mit etwas Land und verdiente sich zusätzlich als Tagelöhner ein bescheidenes Einkommen.  Bescheidener Wohlstand kam nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) durch Verstärkung des Handels auf. Der Wald spielte bis dahin wirtschaftlich kaum eine Rolle, denn er galt – anders als heute – nicht als Kulturland. Bedeutsam wurde er erst mit Auflösung der Marken und dem damit verbundenen Übergang in das Eigentum der Markengenossen. 1846 wurde hier die Markenteilung aufgehoben und das Gemeineigentum auf die Bauern aufgeteilt. In den Wäldern wurden Meiler angelegt und die gewonnene Holzkohle wurde vorwiegend an die aufkommende Eisenindustrie im Siegerland verkauft.  Auch das Schälen der Eichenrinde, deren Gerbsäure für die Ledergewinnung Bedeutung hatte, brachte bares Geld für die Bauern, die in dieser Zeit neue Häuser errichteten. Einige dieser Bauten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind erhalten und stellen heute mit ihren schwarz geteerten Fachwerken und weißgetünchten Gefachen typische Kulturdenkmäler  unserer Region dar.  Doch der Erhalt der teils unter Denkmalschutz gestellten Häuser ist kostspielig, oft nicht tragbar. Die Zeit nagt am Bestand und ein Abriss wird vielfach unvermeidbar. Die Erfahrung, dass nichts auf ewig erschaffen ist, mussten manche Bewohner des Dorfes schmerzhaft erfahren.  Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Niederwald, mit minderwertigen Laubhölzern wie Eiche und Buchen-Krüppelholz bestanden, nach und nach zu einem nachhaltigen Wirtschaftswald umgewandelt. Die Pflanzung der schnellwachsenden Fichte, angestoßen durch die preußische Regierung, führte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer langfristigen Veränderung der Landschaft. Die „Verfichtung“ verdrängte den Ackerbau aus den Höhenlagen, da dieser vorher bis an die Waldgrenze betrieben wurde. Die Landschaft war durch viele kleine Parzellen und deren unterschiedliche Nutzungen bunt und vielfältig, denn die Bauern weigerten sich lange Zeit hartnäckig gegen die Einführung einer „Separation“.  Doch diese war nicht aufzuhalten. Um 1930 hier Erreichte eine Flurbereinigung die Zusammenlegung kleinerer zu größeren, für das Beackern günstig geschnittene Landparzellen.  Und auch der Bau von Wegen und Brücken erfolgte zum vorteiligen Nutzen der Bauern.  

Erfolg und Misserfolg – Armut und Reichtum  

Spuren im Gelände, die von Bergbautätigkeiten herrühren, finden sich noch heute. Im späten Mittelalter wurde hier nach Eisenerz gesucht und auch verhüttet, wie eine alte Urkunde es vermuten lässt. Ein späteres Aufleben des Bergbaus im 19. Jahrhundert wurde wegen Erfolglosigkeit aufgegeben und verschuldete die Gescheiterten. Das Erzvorkommen stellte sich als zu unbedeutend heraus.  

Manchmal blieben die Abkömmlinge von den Höfen im Dorf. Sie fanden Arbeit als Knecht oder Magd, als Tagelöhner oder als eigenständiger Handwerker. Dorfschmied, Leineweber und Schreiner ergänzten die Dorfgemeinschaft und fanden hier Wohnstätte und Arbeit. Ihr Auskommen reichte oft nicht und so bewirtschafteten sie für den Eigenbedarf etwas Land, hielten Kuh, Ziege, Schafe und Hühner, vielleicht ein Schwein. Für die Pacht fürs Land verdingten sie sich bei den Bauern mit ihrer Hände Arbeit. Doch oft reichte auch ihr Schaffen nicht für ein auskömmliches Leben. 1852 verkaufte der Leineweber und Tagelöhner Blanke sein Haus mit Garten öffentlich an einen Meistbietenden und kehrte mit seiner vielköpfigen Familie der Heimat den Rücken. So wie sie wanderten auch andere Bewohner nach Amerika aus. Vielfältige Schicksale erwarteten sie dort. Von wirtschaftlichem Erfolg in der neuen Welt kann berichtet werden, aber auch von Unglück, Frust und Heimweh und der Rückkehr von Gestrauchelten in ihre alte Heimat.

Brücken bauen

Bei Schneeschmelze und langanhaltenden Regenfällen führt der Salwey-Bach aufgrund seines großen Einzugsgebiets erhebliche Wassermassen zu Tal. Bei Hochwasser war früher „Land unter“ und das nachbarschaftliche Miteinander erheblich gestört, da die hölzernen Brücken vorzeitig abgebaut oder gar vom Wasser mitgerissen wurden. Als 1862 die Fußbrücke über den Bach einstürzte, konnte mit finanziellem Einsatz der Dorfbewohner wenige Jahre später die erste steinerne und somit befahrbare Brücke errichtet werden. Damit hatte es ein Ende mit der stillen Abgeschiedenheit. Pferdefuhrwerke aus dem oberen Salwey- und dem Marpetal, die auf dem Weg durch das Wennetal zu den vorhandenen Bahnanschlüssen im Tal der Ruhr unterwegs waren, nahmen nun die Abkürzung durch das Dorf. Marketender, die in ihren Korbtragen allerlei mitgeführten- Waren feilboten, gingen von Haus zu Haus. Sie waren willkommen, nicht nur wegen ihrer Waren. Die Dorfbewohner erhielten so Nachricht über Neuigkeiten, die die Weitgereisten auf ihren Handelsreisen erfuhren und nur zu gerne verbreiteten. Arbeiter, die Lohn und Brot auf dem Niederesloher Kupferhammer fanden, durchquerten nun an Werktagen regelmäßig auf Schusters Rappen den einst so stillen Ort. Um die Jahrhundertwende wurden Pläne für den Neubau einer Eisenbahnlinie von Finnentrop nach Wennemen bekannt. Fest stand von Anbeginn, dass der Streckenverlauf durch Sallinghausen gehen sollte, was große Befürchtungen unter den Dorfbewohnern hervorrief. Doch einer Änderung des Plans zum Standort des Esloher Bahnhofes ist es zu verdanken, dass für das Dorf eine respektable Lösung gefunden wurde. Es folgten bald unruhige Jahre intensivster Bautätigkeiten, die mit der Eröffnung der Bahnstrecke im Jahre 1911 endeten.

Gemeinsam tragen

Der Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 läutete eine Epoche ein, die Spuren in den Familien hinterließ. An die Gefallenen zweier Weltkriege erinnert eine Gedenktafel in der St. Antonius- Kapelle. Der Abriss der alten Dorfkapelle, deren Erbauung vor dem Dreißigjährigen Krieg zu vermuten ist, und ihr unter großen Mühen und Opfern erfolgter Neubau im Jahre 1954 zeugen von einem dörflichen Zusammenhalt in schwerer Zeit und einem gemeinschaftlichen Willen, Zukunft zu gestalten. Die Lebenssituation, das ländlich geprägte Dorfleben der Bewohner unterschied sich in Sallinghausen nicht von dem andere Orte im Sauerland. Es war eine funktionierende Gemeinschaft, bedingt durch das Bewusstsein der Menschen, dass sie alle voneinander abhängig waren. Gerade in Not und schlechten Zeiten war der Beistand und die Hilfe der Nachbarn unerlässlich. Ein tief verwurzeltes Lebensgefühl, ein Gefühl von Sicherheit brachte die Einsicht, dass man sich auf die Hilfe der anderen verlassen konnte. Diese „Gutnachbarlichkeit“ war ein ungeschriebenes Sozialgesetz, das der Lebenswirklichkeit unterstellt und von der Not geschrieben war, die ausnahmslos jeden treffen konnte. Es gab keine wechselseitige Aufrechnung von Ansprüchen und Gegenansprüchen. Wenn sich die Notwendigkeit ergab, entstand Nachbarschaftshilfe in jeglicher Form.

Es hat sich etwas geändert

Die meisten Bewohner des Dorfes sind von ihrem Wesen her eben keine Großstadt-Menschen. Wer auf dem Land geboren wurde und dort aufgewachsen ist, spürt, dass er hier hingehört, und fühlt sich mit seiner Heimat und dem Dorf verbunden. Dennoch ist seit langem eine Veränderung, gar eine Auflösung des ländlich-dörflichen „Eigengeistes“, eine Anpassung an städtische Lebensformen, an den allseits propagierten Zeitgeist zu erkennen. Denn es möchte kein „Dörfler“ als Hinterwäldler gelten, als schlichter, einfacher Landmensch. Und so lebt er angepasst in einer von der Gesellschaft propagierten Lebensart. Und angepasst ist auch sein Umfeld, das Dorf. Erkennbar verschieben sich die Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft. Familie, Partnerschaft, Karriere, Erfolg und Wohlstand, Umwelt und Ökologie werden neu definiert, führen zu einem Umdenken. Wer es sich leisten kann, sucht auf dem Land Entschleunigung von der lauten Hektik der Stadt und des stressigen Berufslebens. Er entflieht der Stadt, die doch so viel zu bieten hat, wie kulturelle Events, Kunstausstellungen, Musik-Veranstaltungen, Nachtleben in Bars und exklusiven Etablissements. Vieles ist derzeit im Fluss, neue Einsichten reifen auch bei den Dörflern. Es ist eine zögernde Akzeptanz, doch letztlich besteht die Einsicht: „Das Dorf ist tot, das alte Dorf – aber es lebt das Dorf der Gegenwart!“