Quelle: WOLL Magazin
Mit Verkaufserträgen die Familie ernährt und neue Strukturen im Dorf finanziert
Qualität aus dem Sauerland war auch schon in ganz Deutschland gefragt, als Produktion und Verkaufswege noch mühsam erschlossen werden mussten. Auch nahm die Landwirtschaft noch eine andere Rolle ein, prägte Dörfer und Landschaften und beherrschte den ländlichen Raum. Die Menschen waren bereit, Mühsal auf sich zu nehmen, um ihr tägliches Brot zu verdienen und ihre Familien zu ernähren. Ein Beispiel, das für die Landwirtschaft überall wirtschaftlich notwendig war, ist der Einsatz guter Sensen gewesen. Und die kamen aus dem Sauerland und zum Teil aus dem Bergischen. Allerdings: Ohne findige Verkäufer wären diese zu einer Zeit, als es noch keine Katalog-Bestellungen und Post-Lieferungen gab, nicht in ganz Deutschland verkauft worden. Die hartnäckigen, gewieften Verkäufer kamen aus den Dörfern des Sauerlandes, wie zum Beispiel aus Liesen. Die dazu gehörenden Sensen lieferte meistens die Firma Cronenberg, ein Familienunternehmen aus dem Raum Arnsberg, das die Schritte der industriellen Revolution erfolgreich bewältigte und über Generationen mit der Zeit ging. Anerkannte Qualitäts-Sensen wurden zeitweise im Raum Arnsberg, aber auch an der Ennepe produziert.
Durch die aus dem Sauerland stammenden Hausierer wurden die Qualitätsprodukte schon vor dem Ersten Weltkrieg direkt bei den Landwirten in ganz Deutschland, aber auch in Nachbarländern verkauft. Die Verkaufs-Touren gestalteten sich für die Verkäufer eher mühselig. Sie zogen zu Fuß, falls vorhanden mit der Bahn oder anderen Gefährten, wie zum Beispiel mit dem Fahrrad in ihre Verkaufsgegend und kamen dort von Hof zu Hof, um ihre Verkaufsgespräche zu führen, wohl wissend, dass die Qualität ihrer Sensen exzellent war. Aus vielen Familien Liesens waren die Väter unterwegs, um mit Sensenhandel eine zusätzliche Einkommensquelle zu erschließen. Oftmals waren die eigenen Verdienste durch spärliche Landwirtschaft oder andere Tätigkeiten in der Umgebung eher bescheiden, so dass das Leben im Dorf sparsam verlief. Aus der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Teil in die 80er Jahre, in der die Lieser Händler unterwegs waren, gibt es wahrscheinlich keine Zeitzeugen mehr, wohl aber den einen oder anderen Kenner der Abläufe in den Familien, deren Väter oder Großväter später ihren Nachfahren davon berichtet haben. So beschrieb Hans-Jürgen Dollberg im Jubiläumsband „700 Jahre Liesen. 1313 bis 2013“ bildhaft und inhaltlich fundiert den „Sauerländer Hausierhandel, Schlausmen und die Faukenschaize aus Liesen“. Sein Vater war noch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf andere Weise unterwegs, wie viele andere Lieser auch, die ihren Familien von den Touren und Erlebnissen berichteten. Es leben aber nicht mehr viele Nachfahren, die möglichst authentisch über die Hausierer-Tätigkeiten berichten können.
Die Männer waren teilweise lange getrennt von ihren Familien. Bisweilen, wenn dieses Kommunikationsmittel schon zur Verfügung stand, konnte mit der Familie aus der Fremde telefoniert werden. Außerdem entwickelten die Händler ihre eigene Sprache, Schlausmen. Trafen sich die Händler abends, nach getaner Arbeit und erfolgreich abgeschlossener Verkaufsgespräche in Gaststätten, in denen möglichst preiswert übernachtet werden konnte, berichteten sie von ihren Tageserfolgen. Damit keine einheimischen Zuhörer mithören konnten, um möglicherweise auf Einnahmen und Erfolge zu schließen, wurde eine Geheimsprache gesprochen, die eine Mischung aus Platt, Jiddisch und dem Rotwelschen gewesen ist. Diese Sprache wurde besonders vor den beiden Weltkriegen gepflegt.
Hans-Jürgen Dollberg führt in seinem Text über die Sauerländer Hausiererhandel im Jubiläumsband (Seite 198) aus den rund 250 Schlausmen-Begriffen folgende als Beispiele an, die wir hier zitieren:
Aches – Bruder
Achile – Essen
Achin – Schwester
Affen – Sensenpacken
Asiak – Tabak
Auscher – Gutsbesitzer
Bauser – Fleisch
beduchen – betrügen
benschen – beten
beriweln – bezahlen
Chaim – Wein
dibbern – sprechen
dobbeln – Essen
daff – gut
daffe Masematte – gutes Geschäft
Fauke – Sense
Faukenschaiz – Sensenhändler
Gallak – Pfarrer
Gammert – Spitzbube
Jack – Gewerbeschein
Jück – Frau
Kaffraime – Bauer
Mischpoke – Verwandtschaft
nuppen – hören
Päfferling – Zigarre
pelmen – rauchen
Raibach – Gewinn
Tiffel – Kirche
Üskers Jück – Gastwirtin
vermelikiechen – sich verheiraten
Der Sensenverkauf unterlag bestimmten Gewohnheiten. So erhielten die Bauern die Sensen sozusagen auf Probe und konnten diese im Sommer benutzen. Bezahlt wurde nach vier Monaten. Die Sensen erhielten die Verkäufer von den Herstellern bahnlagernd an Zielorten ihrer jeweiligen Routen, sodass es immer Nachschub gab. Die Bezahlung erfolgte nach der Ernte per Postanweisung. Auf diese Weise floss Geld ins Dorf, das hier zum Teil auch wieder investiert wurde und somit dem Ort zugutekam. In den 50er Jahren entwickelte sich der Tourismus. Zimmer zur Vermietung wurden eingerichtet, Häuser gebaut, Gastronomie und Geschäfte entstanden. Fortan kamen seit den 50er Jahren Urlauber aus dem Ruhrgebiet und sorgten für zusätzliche Einnahmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich einige Verkäufer sogar schon ihr eigenes Fahrzeug kaufen. Ein VW kostete damals etwa 4.000 Mark. Hinzu kamen vor Ort im Zielgebiet die Übernachtungen in Gasthöfen und die Abende, die dort zum Teil mit den Kunden verbracht wurden. Hier wurden Geschichten erzählt, die zur Stimmung beitrugen, um eine gute Atmosphäre für künftige Geschäfte zu schaffen. Die Bauern aus der Umgebung kamen mit den Händlern zusammen, um Neuigkeiten zu erfahren. Die Verkaufsgebiete erstreckten sich über alle Landschaften Deutschlands, von Norden nach Süden und West nach Ost bis zur Zonengrenze. Sensenhandel wurde auch mit dem angrenzenden Ausland betrieben.
Die Sensen kamen aus Müschede bei Arnsberg und aus Produktionsstätten entlang der Ennepe im Raum Gevelsberg/Haspe, die von der Firma Cronenberg übernommen oder direkt gegründet und aufgebaut wurden. Sie entwickelte den Raum zum Zentrum der Sensenherstellung in Mitteleuropa und sorgte dafür, dass der Nachschub an Sensen nicht geringer wurde. Die Strukturänderungen in der Landwirtschaft und die damit verbundenen zeitgemäßen Maschinen und Methoden haben die Firma Cronenberg rechtzeitig umdenken lassen, hin zu neuen Produkten und Produktionslinien, zum Beispiel Türdichtungen und andere Produkte. Somit ist der traditionsreiche Familienbetrieb immer zeitgemäß geblieben und konnte seinen Fortbestand der industriellen Entwicklung angleichen.