Liederkranz, NYC

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Ein rissiger Vorhang, der sich sachte auftut und dahinter erscheint Wunderbares, aber schon halb Vergessenes: Auf der Upper East Side in New York, genauer, auf East 87th Street, fast Ecke Fifth Avenue liegt der „Liederkranz“. Die Buchstaben sind oberhalb des geschwungenen, mit Eisenblüten verzierten Portals in den Kalkstein gemeißelt, drinnen ist das Licht trotz des hellen Tags gedimmt. Im Foyer stehen grenadierrote Plüschsofas, an der Wand hängen vom Alter nachgedunkelte Ölgemälde, darauf verschiedene Naturszenen, viel Gras. Ein Chassidim trägt einen Stapel Bücher in einen Raum weiter hinten im ersten Stock, ein anderer Mann eilt einen Gang entlang. Ansonsten ist alles ruhig und leer. Irgendwo klingelt ein Telefon.

Der Liederkranz: einst ehrwürdige deutsche Singgemeinschaft, heute ein gemeinnütziger, aber prekärer Musikverein, der Räumlichkeiten an religiöse und wohltätige Organisationen vermietet, weil die Gelder ausgehen. 1847 gründeten 25 deutsche Männer in New York die Gesangsgruppe „Deutscher Liederkranz der Stadt New York“, um klassische deutsche Musik für die neue Welt zu bewahren. Es gab einen Chor, Opernsänger, klassische Gesangswettbewerbe und ein Orchester, Wagner-Auftritte in der Metropolitan Opera. Von 1867 bis 1896 war der deutsch-amerikanische Klavierbauer William Steinway Präsident des dann umbenannten „Liederkranz“. Nach dem Ersten Weltkrieg bezog der inzwischen beachtliche Verein das heutige Gebäude auf 6 East 87st Street; heute ist es das letzte Herrenhaus des Gilded Age auf dem Block 78th und Fifth Avenue. Damals war das Gebäude voller Licht und Marmor, bestückt mit Teppichen und Blumenkübeln. Es hatte bis dahin dem Stahl-Millionär und Philanthropen Henry Phipps gehört. Im Garten steht bis heute eine von Guiseppe Moretti entworfene Bronzestatue der Polyhymnia, Muse der Hymnendichtung.

Heute liegt der Liederkranz nahezu vergessen da; im Hintergrund spielen nur selten Geigen, oder es wird etwas intoniert, Stimmen heben kaum mehr zum Singen an. Obwohl jeden Frühling ein von der Gerda Lissner Stiftung dotierter klassischer Gesangswettbewerb in den Räumlichkeiten des Liederkranz stattfindet, konnte der Verein mit der Modernisierung und der Digitalisierung nicht mithalten oder wollte es nicht. Die Mitglieder schwinden und sind alt, das Repertoire ist passé, niemand singt mehr Kein schöner Land in dieser Zeit, oder Ähnliches. Wo der Liederkranz einst Konzerte in der New York Times ankündigte, liegen Ballräume und Konzerthalle des Hauses meist abgedunkelt und kühl. Der Verein vermietet Räumlichkeiten, das Steinway-Klavier, Servietten und Tischdecken an diverse Veranstalter. Die Bar „Bauernstube“ oder das Restaurant „Wartburg“ sind kaum mehr oder garnicht mehr aktiv; insgesamt ist das Gebäude kein herrschaftliches Haus mehr, sondern zum Pastiche-artigen Bienenstock umkonstruiertes Gebäude, überall gehen Korridore ab, es gibt einen hochmodernen Aufzug, senffarbene Büros, dann wieder Marmorböden und Teppiche, Türrahmen verschiedener Epochen, immer wieder übertapezierte Wände, alte Volants an den Fenstern. Zumindest von außen gilt das Gebäude weiterhin als eines der schönsten Gebäude der unmittelbaren Nachbarschaft.

Quelle: WOLL Magazin