Lass dich überraschen

Quelle: Gisela Schlothane-Minz

Ein Text von Giesela Schlothane-Minz/Oktober 2023

„Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird uns immer
klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in
einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht.“ (David Steindl-Rast)
Dieses Zitat und die Überschrift habe ich in einem Büchlein von Bruder David Steindl-Rast
gefunden. Es trägt den Titel: Einladung zur Dankbarkeit und ist 2018 im Verlag Herder Freiburg in
der Reihe >einfach leben< erschienen.


Die Überlegung, dass das Universum zu mir spricht, hatte ich bereits kurz zuvor in einer kleinen
Publikation mit dem Titel „Begegnungen im Arnsberger Wald“ (Warstein, Selbstverlag, 1999)
gelesen. Der Autor Pfarrer Dieter Froitzheim schreibt u.a. davon, was er von den Tannen gelernt
hat. Er erklärt anhand verschiedener Naturbeobachtungen, dass „es keine großen äußeren Erlebnisse
sind, sondern mehr verborgene, innere Erfahrungen, die zu einem vertieften Verständnis des
Glaubens beitragen können.“

Nach dem Besuch im Herbst 2023 des Ausstellungsprojektes Das Brotbaumregime im Sauerland-
Museum in Arnsberg, welches sehr vielschichtig die Sauerländer Waldkultur thematisiert, habe ich
mir dazu Folgendes überlegt: Wenn wir, der Wald und ich, in einen Dialog eintreten, ereignet sich
diese Begegnung meistens auf eine überraschende Weise. Wie sonst? Natürlich fangen die Bäume
nicht an zu sprechen und die Vögel werden nicht die neuesten Nachrichten von den Dächern und
Bäumen pfeifen. Es passiert! Es passiert irgendwie anders!Zunächst sind da die äußeren Erlebnisse, die später zu inneren Erfahrungen werden.

Quelle: Gisela Schlothane-Minz

Das Beobachten der Natur und das Leben in der Natur sind die Schlüssel dazu. Meine Neugier möchte
sachliche Fragen geklärt haben und ich frage nach der Expertise von Fachleuten, die sich mit dem
Wald auskennen: „Welche Bäume wachsen angesichts der klimatischen Bedingungen in dieser
Gegend? Führen die Bäche genügend Wasser nach der regenarmen Zeit? Welche Tiere kommen in
diesem Wald vor?“ Solche Informationen erweitern mein biologisches und forstkundliches Wissen.
Doch bevor ich überhaupt nach tiefer gehenden Zusammenhängen fragen kann, muss ich viele
kleine Dinge in möglicherweise unwichtigen oder unscheinbaren, banalen oder überraschenden
Ereignissen erlebt haben. Auch ist es durchaus möglich, erst nach langer Zeit und mit Abstand zu
einem Verstehen zu gelangen, eventuell ein „Aha-So-Ist-Das“ zu erleben. Irgendwann, so erkenne
ich überraschend, hat das Universum irgendwie zu mir gesprochen. Dieses „Sprechen“ ist die
Erkenntnis, aus emotionalen und sachlichen Erwägungen heraus die Welt zu verstehen, mir die Welt
zu erklären.

Eine kleine liebenswerte Erinnerung aus meiner Kindheit kann mir jetzt etwas erklären.
Einmal an einem warmen Sommertag packte unsere Mutter eine Picknicktasche mit Limonade und
Keksen für uns Kinder. Wir würden, sobald der Vater von der Arbeit nach Hause käme, noch einen
Ausflug in den Wald machen. Es sollte bis zum „Fischeteich“ gehen und der Onkel mit den Cousins
wären mit von der Partie. Obwohl es sich um eine Strecke von weniger als drei Kilometern
handelte, war es für uns eine weite Reise und eine besondere Unternehmung. Und so war es dann
auch! Am späten Nachmittag holperten wir im Mopedanhänger sitzend über die breiten Waldwege,
wo sonst nur die großen Holzlader dicke Baumstämme transportierten. Wir kamen voller Erwartung
auf Kekse und Limonade (oder war es Dunkelbier?) am eingezäunten „Fischeteich“ an. Nein, bevor
wir die süßen Köstlichkeiten genießen konnten, legte unser Vater die begehrten Flaschen mit einem
Band befestigt in den murmelnden Bach neben dem Waldweg. Uns Kinder führte er unter einige
alte Buchen zu einem in sanftem Grün leuchtenden Moosteppich. An diesem Tag hatte sich unser
Vater vorgenommen, frisches Moos für die Weihnachtskrippe zu suchen. Das würde bis
Weihnachten noch gut in der Sonne trocknen können und dann neben all den anderen Gerüchen der
Winterzeit Erinnerungen an einen schönen Sommertag ins Wohnzimmer bringen.

Quelle: Gisela Schlothane-Minz

Wir Kinder liebten es unter den ausladenden Wurzeln der Buchen und angrenzenden Fichten
unserer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Gärtchen bauen! Unserer Phantasie waren da keine
Grenzen gesetzt. Aus trockenen Ästchen, Baumrindenstücken verschiedener Bäume, trockenen und
frischen Blättern, verschiedenen Baumfrüchten wie Zapfen und Samen entstanden ökologisch und
nachhaltig geprüfte Miniaturgärten, die jederzeit wieder Teil der Natur werden konnten. Und das
einschließlich der kleinen Seen aus dem Silberpapier aus Vaters Zigarettenschachtel. Unser Vater
hatte alles im Blick. Er sagte zum Schluss des Ausflugs sogar: „Pack’ die Staniolfolie wieder ein,
die verrottet nicht.“ Die Zeit verging wie im Flug, und bevor überhaupt der Wunsch nach den
Leckereien in den Sinn kam, stand Vater mit dem geernteten Moos neben dem Anhänger seines
Mopeds. Picknickzeit! Jetzt konnten die ersehnten Flaschen aus dem Bach geholt werden und die
kreativen Waldgartengestalter erfrischen. Auf dem warmen Moos sitzend tranken wir von der Natur
gekühlte Limonade und aßen Kekse mit Schokoladencreme. Wo konnte es schöner sein …?
Rückblickend sehe ich diese vielen kleinen Erlebnisse als Erkenntnisschritte in einem großen
Ganzen, spüre Dankbarkeit und Freude darüber. Im Blick auf das vorangestellte Zitat hat der Bach
zu mir „gesprochen“: „Geh’ nur zuerst im Schatten der Bäume spielen! Lass’ Dich von den warmen
Sonnenstrahlen kitzeln! Genieße die Zeit mit Deinen Geschwistern und Cousins! Ich kühle durch
mein klares sauberes Wasser die Limonade, wie ich im Teich für die Fische sorge! Aus meiner
Quelle fließt immer frisches Wasser. Siehst du die Stichlinge dort im Wasser?“ Bestimmt war das
alles so, denn sonst würde ich mich heute nicht mehr an diesen besonderen Sommertag erinnern.
Solche Erlebnisse sind in inneren Bildern gegenwärtig, die dann mit neuen Geschehnissen meinen
Erfahrungshorizont erweitern.

Quelle: Gisela Schlothane-Minz

Beim Stichwort WALD tauchen bei mir Ameisenhaufen, mäandernde Bäche, der rufende Kuckuck –
gesehen habe ich ihn nie – spannende Geschichten aus Sagen und von Vorfahren auf, ein Blick in
die dunklen dicht gepflanzten Fichten, die dicke 1000jährige Eiche hinter der letzten Straße am
Waldrand, das Rufen des Hirsches aus der Ferne, das Knistern und Knacken im Dickicht oder der
Ausblick in die Weite der Sauerländer Berge vom Stimm-Stamm her gesehen. Während meine
Finger über die Tastatur gleiten fällt mir noch ein, dass ein selbst angesetzter Fichtennadelspitzensirup
einmal sogar einen schrecklichen Husten gelindert hat. Ein Geschenk des Waldes!
All’ das und noch viel mehr sind Steine wie in einem Mosaik, um eine Landschaft, das Leben der
belebten und unbelebten Natur kennenzulernen und zu erkunden. Als Gesamtbild formt es sich
ständig neu. Ich erkenne mich als einen Teil der Natur in eben dieser Natur. Eigene Erfahrungen
sind die Basis für weiteres, tieferes Verstehen.

Pfarrer Dieter Froitzheim fragt seine Zuhörer in seinem Predigttext, wie überhaupt die bildreiche
Sprache der Bibel verstanden werden kann. „All das bleiben Worthülsen, wenn wir nicht aus
eigener Anschauung wissen, was eine Quelle ist.“
Angesichts der jüngeren Waldgeschichte der Mittelgebirgslandschaften sind die massiven
Kahlschläge durch das Absterben der Fichtenwälder erschreckend. Auch hier sprechen der Wald
und seine Bewohner, sprechen die Bäume und Pflanzen, alle großen und kleinen Tiere, spricht das
Wasser, sprechen die Steine und das gestirnte Firmament zu uns.
Das Ausstellungsprojekt „Das Brotbaumregime“ in Arnsberg betrachtet den derzeitigen Zustand aus
vielen Perspektiven. Eine vielseitig strukturierte Homepage www.brotbaumregime.info stellt
regionale und globale Impulse vor, betrachtet den Wald in seinen unterschiedlichen Facetten als
Wirtschaftsfaktor, Lebensraum, Inspirationsquelle etc. Es geht um Wandel und Wachstum in einer
sich ständig neu schaffenden Welt. Deren Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ist nur dann gegeben,
wenn die bunte Vielfalt am Wegesrand gedeihen kann. Ich beziehe mich hier z.B. auf das
sogenannte „Ackerrandstreifenprogramm“ welches bereits seit den 70er-Jahren zur Erhaltung der
Artenvielfalt besteht. Was damals dringlich war, ist heute notwendig.

Umdenken und Rückbesinnen bedeuten manchmal einfach nur soviel: Ich habe mich beim Wandern
verlaufen und suche einen neuen Weg. Warum nicht bis zur nächsten Wegkreuzung zurückgehen
und von dort aus neu starten? Auch da spricht das Universum irgendwie zu uns. Wir gehen ja nie
denselben Weg! Der griechische Philosoph Heraklit hatte beim Beobachten eines Flusses erkannt:
„Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt!“ Bunte
Vielfalt am Wegesrand kann auch bedeuten, dass ich solche Meinungen wahrnehme und ernst
nehme, die nicht dem Mainstream und allein wirtschaftlichen Berechnungen folgen. Die von mir
besuchte Ausstellung erinnert zum Beispiel auch an Forstleute, die dem Mischwald eine
längerfristige Zukunft versprachen und zeigt auf, dass die Fichtenmonokulturen nicht unumstritten
waren. Die schnell wachsende Fichte bewährte sich zunächst als dominierender Rohstoff, der „das
Brot“, den Lebensunterhalt, sicherte. So erklärt sich auch der Name Brotbaumregime.
Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die seit ihrer frühen Kindheit die Verbundenheit mit der
Natur im Sauerland erleben durften. Im heimischen Garten, im nahegelegenen Wald und Feld
konnte ich eine Einstellung von Dank und Respekt gegenüber der ganzen Schöpfung entwickeln.
(so auch Kimmerer, R. W., Geflochtenes Süßgras, Berlin 4. Aufl. 2022). Solche Möglichkeiten
können nicht nachgeholt werden, können aber in einer anderen Weise neu gemacht werden, wenn
wir z.B. einige Elemente einer Ausstellung wie „Das Brotbaumregime“ vertiefen oder die
Ausstellung „Wunder Wald“ im Sauerland-Museum (www.sauerland-museum.de) besuchen.
Gerade jetzt kann bei Wanderungen beobachtet werden, wie sich die Natur wieder erneuert. Wir
Menschen benötigen eine neuen Blick auf den Wald! Denn, was wären wir ohne den Wald?
Die Künstlerin Theresa Kampmeier sieht einen Lösungsansatz im „Wir“ der menschlichen
Gesellschaft. Sie berichtet u.a. von einer fraktionsübergreifenden Resolution des Kreistages im
Hochsauerlandkreis. Gemeinschaftliches Handeln ist auf allen Ebenen notwendig.
„Die Aufgaben, vor denen wir gesellschaftlich stehen, erscheinen unfassbar groß. Aber wir müssen
auf einem sinnvollen Weg anfangen. Das geht nur bei uns selbst.“ formuliert sie in einem
informativen Begleitheft und auf der Homepage. Spannende Beiträge führen weiter und beschreiben
konkrete Visionen für eine neue gemeinsame Zukunft aller Menschen, die dem Wald emotional
verbunden sind. Sie bezeichnet Das Brotbaumregime als Experiment auf diesem Weg. Ihre
Hoffnung drückt Theresa Kampmeier in Fragen aus:
„Was passiert, wenn wir uns gegenseitig Fragen stellen, um einander besser zu verstehen? Was
passiert, wenn wir miteinander teilen, was uns wehtut und wofür wir dankbar sind? Was passiert,
wenn wir uns gegenseitig ermutigen? Was passiert,wenn wir unsere Ängste anerkennen und
Verluste benennen? Was passiert, wenn wir Rituale finden, um darum zu trauern? Was passiert,
wenn wir aus der Geschichte lernen, warum das gerade passiert?“
So lädt sie auch über das Projekt hinaus zu einer Fortsetzung und Vertiefung des begonnenen
Dialogs ein und regt weitere Gespräche an.
Dieter Froitzheim lenkt seinen Blick beim Waldspaziergang in den frühen Morgenstunden auf die
Tautropfen und beobachtet Überraschendes:
„Auf dem Gras lagen kleine Kugeln wie aus Glas, am Farn, an der Distel, an verschiedenen Halmen
hingen sie in unterschiedlichsten Größen – und wenn die Sonne auf sie schien, dann glänzten sie wie
Perlen. Und je nachdem in welchem Winkel die Sonne schien und mit welchem Winkel ich auf die
Tau-und Regentropfen schaute, leuchteten sie in allen Farben des Regenbogens.“
Ja, lass dich überraschen! Bruder David Steindl-Rast schreibt: „Ein Regenbogen ist immer eine
Überraschung.“ Ich möchte hinzufügen: „Er ist eine Überraschung und ein Hoffnungszeichen!“
Ein Regenbogen zeigt sich in den kleinen schillernden Tautropfen, die in der Sonne leuchten und in
einem großen strahlenden Farbbogen über dem Land. So spricht das Universum zu uns in seiner
Sprache.
Und wenn du nicht glauben magst, dass das Universum zu uns spricht – kein Problem! Im Sauerland
gibt es viele freundliche und aufgeschlossene Menschen. Für ein nettes Gespräch mit Dir haben sie
immer Zeit!
Text: Gisela Schlothane-Minz, Oktober 2023
Fotos: aufgenommen in der Nähe von Meschede

Quelle: Gisela Schlothane-Minz