„Kopf runter und ballern“

Quelle: Team SKS Sauerland

Schuhplatten klicken in die Pedale, noch einmal bekreuzigen, versuchen den Kopf freizumachen. Mein Blick richtet sich auf die Straße. Es ist der 7. September. Ich stehe am Start der Deutschen Meisterschaft. Mein Jahreshighlight hat Corona getrotzt. Der Weg von dutzenden Rennabsagen im März bis hierhin war außergewöhnlich, lehrreich und alles andere als einfach.

Quelle: Team SKS Sauerland
Jon Knolle

Mein Name ist Jon Knolle und ich fahre seit 2018 für das KT Team SKS Sauerland NRW. Momentan läuft meine dritte Elitesaison. Anfang des Jahres hatte ich mir viel vorgenommen. Ich wollte beweisen, ob ich nach zwei Lehrjahren im Profibereich Ergebnisse holen und meine Leistung weiter steigern kann. Schon im Dezember flog ich für zwei Wochen ins private Trainingslager nach Mallorca. Ende Januar ging es mit dem Team zurück auf die Sonneninsel. Wir hatten uns Verstärkung von fünf neuen Fahrern geholt, die frischen Wind ins Team brachten. Der Rennkalender für das Jahr sah sehr gut aus. UCI Rennen in Frankreich, Italien, Portugal und zahlreichen weiteren Ländern. Unser Hauptziel war die Deutschland Tour. Ich hatte das Gefühl jeder wollte es jedem und sich selbst beweisen. Alle waren heiß. Anfang März standen auf der griechischen Insel Rhodos ein Eintagesrennen und eine dreitägige Rundfahrt an. Für mich war der Plan, im Finale für unsere Sprinter zu fahren. In den Bergen hieß es überleben. Mit diesem ersten Formtest war ich zufrieden. Ich bin jemand, der immer ein paar Rennkilometer braucht, bis der Motor richtig läuft. Der sollte in dieser Saison jedoch erst einmal nicht weiterlaufen …

Lockdown zerstört Rennkalender

Bereits auf Rhodos hörten wir von den weltweit steigenden Corona-Zahlen und den ersten Fällen in Deutschland. Am 10. März flogen wir nach Hause. Am Donnerstag, den 14. März, begann es buchstäblich Rennabsagen zu hageln. Ich weiß es noch, als ob es gestern war. Ich saß im Café – Trainingspause im Sauerland. Am Wochenende stand ein Rennen in Belgien im Kalender. Das Handy vibrierte, Absage um Absage. Als drei Tage später alle Rennen bis Mai Geschichte waren, brauchte ich zwei Tage, um die Welt wieder zu verstehen. In diesem Moment gab es für mich nichts Schlimmeres. Corona trägt die Schuld daran, dass ich meinen Traum vom Radprofi nicht verwirklichen kann. Völlig unreflektiert habe ich damals nur das Negative an dieser Pandemie gesehen. Ich glaube, viele Menschen haben ein paar Tage oder Wochen gebraucht, um die neue Situation zu verarbeiten.

Suche nach neuen Herausforderungen

Ein halbes Jahr später blicke ich auf einen außergewöhnlichen Sommer zurück, den ich positiv in Erinnerung behalten werde. Wir Fahrer des Teams haben natürlich Alternativen zu Radrennen gesucht. Da niemand wusste, ob und wann es weitergeht, war eine Trainingspause keine Option. Zunächst entdeckte ich Zwift für mich. Das ist eine Trainingsplattform, auf der man online virtuelle Radrennen gegen weltweite Konkurrenz bestreiten kann. Mitte April wurde sogar eine nationale Rennserie auf Zwift ins Leben gerufen. Weit über 300 Starter verbrachten von da an ihre Samstage mit Online-Radrennen. Es gab jedoch auch das andere Extrem – das komplette Gegenteil zum Radrennen: So viele Kilometer am Stück auf dem Rad wie möglich. Mit meinem Trainingspartner Simon Schmitt fuhr ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang 400 Kilometer ohne Pause. Wir alle suchten uns Herausforderungen, die die ersetzten, die uns durch Corona genommen wurden. Doch auch neben dem Rad nutzte ich die Pause. Anfang Mai zog ich in eine eigene Wohnung.

In den nächsten Wochen konzentrierte ich mich dann auf ein bestimmtes Projekt: Die Disziplin des Zeitfahrens liegt mir am besten. Dementsprechend rüstete ich mein Rad auf und feilte gemeinsam mit meinem Teamkollegen Jonas Härtig an Kleinigkeiten. Dieser entwickelte und optimierte einzelne Bauteile mithilfe eines 3D-Druckers. Für all diese Dinge wäre unter gewöhnlichen Umständen keine Zeit gewesen. Ich begann immer mehr die Corona-Krise als einzigartige Chance zu sehen. Nebenher versuchte ich, den Spaß auf dem Rad aufrechtzuerhalten. Ich habe das Glück, dass es im Sauerland stets Gesellschaft im Training gibt. Bestehend aus neun Menschen, die Lust auf Rennradfahren haben, formte sich bereits im Winter eine Trainingsgruppe – die selbsternannten Tranquillos. Im Juni organisierten wir drei Radrennen im Sauerland. Unter Einhaltung der Verkehrsregeln brachten wir uns gegenseitig an unsere physischen Grenzen und erschufen unsere eigene Rennsaison.

Rückkehr in den strukturierten Alltag

Ende Juni kehrten wir zum systematischen Training zurück, denn Radrennen sollten bereits Ende Juli wieder stattfinden. Die beiden Teamchefs, Jörg Scherf und Heiko Volkert bemühten sich mit aller Kraft um Rennteilnahmen. Nach ein paar Trainingsrennen mit dem Team in Wenholthausen und Winterberg wurde unser aller Hoffnung dann doch noch wahr: die Teilnahme an der Sibiu Tour in Rumänien. Hier starteten einige große WorldTour Teams – unter anderem BORA – hansgrohe. Das Hauptziel war: Form holen für die folgende Deutsche Meisterschaft der U23. Mit ein wenig Glück konnte ich einen 6. Platz im Auftaktprolog einfahren. Weitere zwei Male fuhren wir in die Top 10. Alles fühlte sich an wie vor Corona. Dann kam der nächste Rückschlag: die Absage der Deutschen Meisterschaft. Das war der neue Alltag – kein Rennen ist sicher, wir mussten mit allem rechnen. Anschließend fuhr ich mit zwei Freunden ins Kurztrainingslager nach Tirol. Höhenmeter sammeln und mental auf den Rest der Saison vorbereiten.

Den ersehnten Sieg vor Augen

Während Mitte August eine Hälfte des Teams in Polen Rennen fuhr, ging es für mich und die anderen zur Baltic Chain Tour nach Estland. Auch hier fuhren wir dreimal in die Top 10 und verpassten zweimal sogar knapp einen Sieg. Ich persönlich fuhr auf der letzten Etappe bis 500 Meter vor dem Ziel mit zwei anderen Ausreißern um den Etappensieg. Wären meine Begleiter nicht stärker gewesen, hätte das auch funktioniert. Zwar war ich enttäuscht, dass ich den Sieg so knapp verpasst hatte, nahm aber trotzdem auch viel Selbstvertrauen und Motivation mit in die nächsten Rennen.

Eine Woche später startete ich bei der Deutschen Elitemeisterschaft. 15 Kilometer vor dem Ziel brachte mich jedoch ein Bremsfehler im strömenden Regen auf den Boden der Realität zurück. Von nun an richtete ich meinen Fokus auf die Deutsche Meisterschaft im Einzelzeitfahren – meiner Paradedisziplin. Es war das, was ich am besten konnte: Kopf runter und so lang wie möglich ballern. Alles lief nach Plan. Die Tage vorher hatte ich im Gefühl, dass ich um den Sieg fahren kann. Ich träumte sogar von dem Rennen. Im Wettkampf warf ich allerdings meine geplante Pacing-Taktik über den Haufen. Die erste Hälfte fuhr ich viel zu schnell, die Rechnung bekam ich dann im Finale. Am Ende sprang zwar noch der zehnte Platz heraus, meinen persönlichen Erwartungen, konnte ich damit aber nicht gerecht werden.

Eine Pause für den Kopf

Dann hieß es: Kopf aus, Urlaub an. Im Anschluss fuhr ich mit meiner Freundin zwei Wochen mit dem Camper-Van durch die Alpen bis zur Adria und erkundete Slowenien. Das tat unheimlich gut und ich konnte den Druck der letzten Wochen ein wenig abbauen. Das Rennrad war jedoch mit dabei, denn Mitte September startete ich beim Einzelzeitfahren „King oft the Lake“ rund um den österreichischen Attersee. Hier wurde ich wieder Zehnter bei guter Konkurrenz. Die Saison plätscherte langsam ihrem Ende entgegen. So fühlte es sich jedenfalls an.

Auf die Zielgerade einer bunten Saison

Doch eigentlich steht ihr Höhepunkt noch vor der Tür. Ende Oktober warten mit der Deutschen Bergmeisterschaft und der Deutschen Straßenmeisterschaft für die U23 zwei Highlights auf mich und das Team. Momentan versuche ich meine Motivation und die physische Form zu bewahren. Zwar habe ich Lust auf den Saisonabschluss – bei einstelligen Temperaturen in ein paar Wochen sähe das jedoch anders aus. Ich blicke dem Ende dieses verrückten Jahres mit einem leichten Grinsen entgegen. Corona war bis jetzt eine Chance, viele sonst zeitlich unvereinbare Dinge nachzuholen. Bis jetzt war es alles andere als einfach, aber auch längst nicht so schwer, wie anfangs vermutet.