Archäologische Überraschungen inmitten von christlichem Leben
Ein sensationeller Fund erwartete den Archäologen Wolfram Essling-Wintzer vom Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) unter dem Fußboden des alten Gemeindesaals der Pfarrgemeinde St. Laurentius in Arnsberg. In den Jahren 2018 und 2019 kam in seiner Form Einmaliges zum Vorschein: ein mit gotischen Fresken ausgestattetes Grab und eine Warmluftheizung, im Mittelalter ein absolut exklusives Stück Hochtechnologie. Zunächst hatte das Erzbistum Paderborn sogar mit dem Gedanken gespielt, den vollkommen maroden Ostflügel des ehemaligen Klosters Wedinghausen, der von der Pfarrgemeinde als Gemeindehaus genutzt wurde, abzureißen. Doch dann ergab sich die Aussicht auf eine neue Nutzung im christlichen Sinn und man entschied sich für die Sanierung – ein großer Glücksfall, wie sich schon bald zeigte, denn das Gebäude beherbergt einige der bedeutendsten Baukunstschätze des Sauerlandes.
Brudermord und Sühne
Schon die Geschichten und Legenden um die Gründung des Klosters im Jahr 1173 bieten Stoff für einen Kinofilm, kommen doch die großen Figuren des 12. Jahrhunderts darin vor: Kaiser Friedrich Barbarossa und sein Widersacher Heinrich der Löwe. Die Frage, was daran nachträgliche Vergangenheitsinszenierung und was historische Wahrheit ist, bleibt den Historikern vorbehalten: Graf Heinrich I. von Arnsberg war ein Unterstützer des Kaisers Friedrich Barbarossa und gleichzeitig bedacht auf die Festigung seiner Macht im Sauerland. Dabei stand ihm der eigene Bruder im Weg. Kurzerhand ließ er ihn – ausgerechnet während einer heiligen Messe – verhaften und in den Kerker werfen. Den Aufenthalt dort überlebte der Gefangene nicht. Heinrich der Löwe, der Herzog von Westfalen, und der Kölner Kurfürst und Erzbischof Rainald von Dassel forderten eine harte Bestrafung des Arnsberger Grafen. Kaiser Barbarossa persönlich verwendete sich für den Beschuldigten und so fiel die Strafe vergleichsweise harmlos aus: Gebietsabtretungen, Entschuldigungen, eine künftige Abhängigkeit vom Kölner Erzbischof und die Gründung eines Klosters. In exponierter Lage, genau gegenüber der gräflichen Burg, stiftete Graf Heinrich I. Kloster Wedinghausen. Statt Mönche in sein neues Kloster einzuladen, entschied er sich für Prämonstratenser Chorherren, die zwar nach klösterlichen Regeln leben, aber gleichzeitig als Gemeindepfarrer in der Umgebung ihres Stifts für das seelische Wohl und die Fortbildung der Bevölkerung sorgen. So war die Stiftung von Wedinghausen vielleicht weniger eine Sühne als ein kluger politischer Schachzug. Das Chorherrnstift brachte großen kulturellen und intellektuellen Fortschritt ins Sauerland. Anders als sonst üblich, rekrutierten die Chorherrn ihren Nachwuchs nicht nur aus dem Adel der Region. Auch die Söhne von Handwerkern, Bürgern und Bauern fanden Aufnahme.
Die Speerspitze von Technik und Wissenschaft des Mittelalters
Die neusten Ausgrabungen haben gezeigt, dass Graf Heinrich I. für den Bau des Klosters Wedinghausen die fähigsten Handwerker seiner Zeit verpflichtet haben muss. Unter dem Fußboden des Skriptoriums ließ er eine Warmluftheizung einbauen, die in ihrer Zeit die modernste, komfortabelste und exklusivste verfügbare Gebäudetechnik darstellte. Die warme Luft eines Feuers in einer tief im Fels sitzenden Steinkammer strömte über kleine Öffnungen in die Schreibstube und sorgte dafür, dass die Schreiber und Buchmaler das ganze Jahr über prächtige, mittelalterliche Handschriften erzeugen und kopieren konnten. Die Heizung ist heute die am besten erhaltene ihrer Art. Heinrich I. trat später als Laienbruder selbst in das von ihm gestiftete Kloster ein. Wie hoch man ihn dort schätzte, zeigt der prominente Platz seines Grabes: unter dem Fußboden des Kapitelsaals, in dem alle Zusammenkünfte der Chorherren stattfanden. Sein Grab wurde sogar mit aufwendiger Freskomalerei verziert – sehr selten in Deutschland und einmalig in Westfalen. Das Skriptorium des Klosters wurde in den folgenden Jahrhunderten zu einer Speerspitze der Wissenschaft. Seine Bibliothek – bei weitem die größte im Sauerland – war von internationalem Rang. Eines ihrer wertvollsten Bücher war der Gero Codex aus dem 10. Jahrhundert. Als das Kloster Wedinghausen 1803 im Rahmen der Säkularisierung zwangsaufgelöst wurde, holte der neue Landesherr, der Landgraf von Hessen-Darmstadt, das bibliophile Kleinod nach Darmstadt, wo es bis heute verwahrt wird. Immerhin 110 Regalmeter wertvoller Bücher sind allerdings in der Klosterbibliothek erhalten geblieben.
Asyl für drei Könige
Als 1794 die Truppen der französischen Revolutionäre den westlich des Rheins gelegenen Teil des Erzbistums Köln eroberten, floh das Domkapitel ins Kloster Wedinghausen. Die Kirche St. Laurentius wurde zur erzbischöflichen Kathedrale – ohne jedoch jemals diesen Titel zu tragen. Um ihre Bedeutung zu unterstreichen, trägt sie allerdings bis heute den Ehrentitel Probsteikirche, was ihrem Vorsteher den ebenfalls ehrenvollen Titel des Probstes beschert. Der Schrein der Heiligen drei Könige und weitere, wertvolle Reliquien aus Köln fanden Asyl im Kloster Wedinghausen. Auch der letzte Kurfürst und Erzbischof von Köln, kein geringerer als der Bruder des damaligen (letzten) Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen, Erzherzog Anton Viktor von Österreich wurde hier gewählt, ohne allerdings seine Herrschaft jemals wirklich antreten zu können. Als das Domkapitel schließlich nach Köln zurückkehrte, nahmen sie die Heiligen Drei Könige wieder mit, ließen aber anderes zurück. Der barocke Stuhl des Erzbischofs steht heute noch vor dem Hochaltar.
Verlorene und gewonnene Bauten
Das 19. Jahrhundert brachte große Veränderungen. Die Chorherren wurden 1803 in Rente geschickt. Die Klosterschule Laurentianum blieb jedoch bestehen. Wer von den Chorherren dazu in der Lage war, wurde als Lehrer weiterbeschäftigt. Die Schule besteht bis heute in neuen Gebäuden auf altem Grund – dort, wo früher die Scheunen und Ställe der klösterlichen Landwirtschaft standen. Der nördliche Teil des Kreuzganges und der ganze Südflügel des Klosters wurden abgerissen. Nach Süden hin begrenzt heute das Lichthaus in modernster Glasarchitektur den Innenhof. Es wird für Kunstausstellungen genutzt. Den Platz des Verbindungsbaus zwischen Westflügel und Prälatur hat ein Kunstwerk eingenommen, das an anderer Stelle überflüssig geworden war: das Hirschberger Tor. In Hirschberg auf dem Arnsberger Wald flankierten seine zwei fast lebensgroßen Jagdszenen-Skulpturen früher die Zufahrt zu einem Jagdschloss der Kölner Erzbischöfe aus dem 17. Jahrhundert. Als das Schloss 1826 abgerissen wurde, fand das Tor in Arnsberg eine neue Heimat. Ebenfalls eine neue Heimat fanden in Wedinghausen prunkvolle, barocke Ausstattungsstücke aus der 1832 abgerissenen Kirche des Klosters Grafschaft bei Schmallenberg, wie die Beichtstühle und die Kanzel.
Kleinode für die Gegenwart
Wer heute die Gebäude und Räume des ehemaligen Klosters Wedinghausen nutzt, fühlt sich beseelt von der reichen Vergangenheit. Schließlich stammen nicht nur die Mauern der Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Auch die Dachbalken sind noch original aus der Entstehungszeit der Kirche und somit der älteste Kreuzstrebendachstuhl Deutschlands. Im Westflügel – früher einmal Speisesaal, Küche und Bierkeller des Klosters – sind über Ausstellungsräumen zwischen den rußgeschwärzten Balken der ehemaligen Räucherkammer die wertvollen Bestände des Stadt- und Landständearchivs untergebracht. Das Wichtigste ist aber, dass der größte Teil des Komplexes auch heute noch mit christlichem Leben gefüllt ist. Das Obergeschoss des Ostflügels wird von der Katholischen Gemeinschaft Shalom aus Brasilien bewohnt.
Die Probsteikirche und das Untergeschoss des Ostflügels dienen der Kirchengemeinde. Wenn Pater Werner Vullhorst OSB heute vor der heiligen Messe eine Tür des Einbauschranks in der Sakristei öffnet, fühlt er die Präsenz des Glaubens seiner Vorgänger aus fast sieben Jahrhunderten. Dieser Schrank steht seit seiner Erbauung im Jahr 1340 ohne Unterbrechung an der gleichen Stelle und diente immer nur diesem einem Zweck: der Aufbewahrung von all dem, was man im Rahmen einer heiligen Messe braucht. „Von solchen durchbeteten Dingen und Räumen geht eine besondere Kraft aus“, sagt Pater Werner. „Man spürt den Glauben, die Hoffnungen und Schmerzen all der Generationen von Menschen, die vor uns hier waren – und denen dieser Ort wichtig und hoffentlich hilfreich war.“ Die sichtbaren und unsichtbaren Spuren des gelebten Glaubens aus über acht Jahrhunderten sind wahrscheinlich noch viel wertvoller als die archäologischen Funde.