„Kein Kind darf jemals zurückgelassen werden“

Birgitt Rudolf aus Madfeld

Über 40 Jahre war Birgitt Rudolf Lehrerin in Madfeld. Die Förderung jedes einzelnen Kindes war ihre größte Motivation, nachdem sie selbst eine von Krieg und Vertreibung geprägte Kindheit hatte.

„Das Wort Inklusion gab es damals noch nicht,“ erinnert sich Birgitt Rudolf. „Es war eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam in einem Klassenraum unterrichtet wurden. Die stärkeren unterstützen die schwächeren, meist waren sogar mehrere Jahrgänge zu einer Klasse zusammengefasst.“

Ja, sie war eine tolle Lehrerin, die ihren Beruf aus Überzeugung ausübte. Ich selbst hatte sie im 1. und 2. Schuljahr als Klassenlehrerin. Eine sehr prägende Zeit. Wie spannend war es doch, von ihr immer wieder neue Buchstaben beigebracht zu bekommen, aus denen man schließlich Worte und ganze Sätze baute. Sogar Bücher konnte man selbst lesen, wenn man ordentlich geübt hatte.

Zur Verabschiedung bekam Birgitt Rudolf ein liebevoll gemaltes Bild der Grundschule Madfeld, in der sie Jahrzehnte unterrichtete und Generationen von Schülern weit mehr als nur das ABC beibrachte.

Eine schöne, eine unbeschwerte Zeit, die man ein Leben lang nicht vergisst. Nicht alle Kinder hatten so eine glückliche Kindheit. Birgitt Rudolf wurde 1934 in Danzig geboren. Als Kind lief sie mit ihren Geschwistern am Ostseestrand entlang und suchte nach Bernstein, den ihr Vater, ein Uhrmacher und Goldschmiedemeister, zu edlem Schmuck verarbeitete. Birgitt Rudolf zeigt auf ihre wunderschöne Kette und ihren Armreif mit Bernstein. „Die hat mein Vater noch selbst angefertigt“, erklärt sie.

Später hat sie die Schrecken des Krieges erlebt. Bombenangriffe, die Eroberung Danzigs durch die russische Armee, und dann kamen die Polen und die Familie wurde 1945 „ausgewiesen“, wie man damals sagte. In einem Güterzug wurde sie mit ihren Eltern und Geschwistern, nur mit einem Rücksäckchen voll Habseligkeiten, mit über 70 Menschen pro Waggon in wochenlanger, beschwerlicher Fahrt nach Berlin transportiert.

Die Stadt war unfassbar zerstört, es ging nur ums Überleben. „Das hat mich geprägt,“ sagt Birgitt Rudolf. „Wenn man so etwas erlebt hat, sieht man vieles, was heute passiert, deutlich gelassener.“ Die Schulen wurden im Oktober 1945 wieder geöffnet. „Gelernt wurde im Licht von alten Funzeln, Hefte gab es keine und wir schnitten die weißen Ränder von alten Zeitungen ab, klebten sie zusammen, nur um etwas aufschreiben zu können. In den Schuttbergen suchten wir nach Büchern.“

Während der Berliner Blockade kamen die Rosinenbomber. „Wir Kinder sind dann losgerannt ins Olympiastadion. Mit kleinen weißen Tüchern haben wir gewunken. Oftmals haben die Piloten kurz vor der eigentlichen Landung kleine Päckchen für uns abgeworfen. Ein bisschen Kartoffelpulver, sogar mal ein paar Süßigkeiten“, erinnert sie sich dankbar.

Die junge Birgitt macht in Berlin Abitur und hat bereits einen Studienplatz an der Humboldt Universität Berlin sicher, als es am 17. Juni 1953 zum blutig niedergeschlagenen Aufstand im Ostsektor Berlins kommt. Ein Studieren im Osten ist damit für Westberliner nicht mehr möglich und die Liebfrauen-Schwestern, an deren humanistischem Gymnasium sie war, empfahlen ihr das Studium in Paderborn.

Birgitt und Johannes Rudolf als Schützenkönigspaar 1959. Ein Schüler rief begeistert: „Frau Rudolf sieht aus wie eine Teepuppe, nur ohne Beine, aber mit Schuhe!“

Mit einem Interzonen-Pass dufte sie Berlin verlassen und fuhr mit einem Köfferchen in der Hand nach Paderborn. Nach zwei Jahren harten Studiums, ohne Semesterferien, legte sie das erste Staatsexamen ab. Es musste schnell gehen, denn überall gab es Lehrermangel.

So auch an der katholischen Volksschule in Madfeld, in die sie eingewiesen wurde. „Sind Sie die frische Lehrerin?“ wurde sie sogleich gefragt, als sie in Madfeld an der Bushaltstelle ausstieg. Das war der 3. Mai 1955.

Wer hätte damals gedacht, dass die „Junglehrerin aus Berlin“ 42 Jahre in Madfeld unterrichten würde, davon sogar 31 Jahre als Schulleiterin? Sogar ihre große Liebe fand sie hier, den Forstwirt Johannes. Drei Kinder, vier Enkel und ein Urenkelkind sind bisher daraus entsprungen. „Ohne die Unterstützung meines Mannes und meiner Kinder bei den vielfältigen Aufgaben in Schule und Gemeinde hätte ich das alles nicht schaffen können“, sagt sie. „Durch meine Familie ist Madfeld zu meiner Heimat geworden.“

Zusätzlich erleichterten ihr das Kollegium, die Pfarrgemeinde, die hilfsbereiten Nachbarn und die Dorfgemeinschaft das Eingewöhnen ins dörfliche Leben. Das ist ihr sehr wichtig zu erwähnen.

Aus ihrem Unterricht kann Birgitt Rudolf so manche Anekdote berichten. Als sie im Religionsunterricht von der Hochzeit zu Kana sprach, wo Jesus als Gast Wasser in Wein verwandelte, fragte sie ihre Schüler: „Was hättet ihr von solch einem Gast gedacht?“ Die Antwort kam prompt: „Den laden wir mal öfter ein!“

Oder das Wunder, als Jesus die Blinden wieder sehen ließ, die Lahmen wieder laufen ließ. „Was machte er dann wohl mit den Tauben?“ fragte sie. „Die ließ er fliegen!“ war sich ein Schüler sicher.

Birgitt Rudolf liebte die Arbeit mit den Kindern und sah die Schule auch als Kulturträger an, rief Krippenspiel, Kinderschützenfest und -karneval ins Leben. Generationen von Madfelder Kindern hat sie viel mit auf den Lebensweg gegeben, sie optimal auf die „Schule des Lebens“ vorbereitet.