Im Sog der bunten Steine

Erwachsene LEGO-Fans stehen längst zu ihrer Leidenschaft

Endlich Feierabend, ab auf den Dachboden. Ah, sehr schön! Dieses vertraute Rascheln! Klick, klack! Dieses Gefühl, wenn Noppensteine sich ineinanderfügen. Wenn das Ganze zu viel mehr wird als die Summe seiner Teile. Der Zeitplan heute ist eng gestrickt: Der Raumgleiter muss noch fertig werden, die nächste Mission steht an. Die neuen Sauerstoffflaschen müssen noch an die Astronautenanzüge angebracht werden, doch reicht der Luftvorrat? Es wird ein spannender Abend, und wie so oft werde ich auch heute wieder viel zu spät ins Bett gehen.

Während der Corona-Pandemie hat mich das wesentlich angenehmere LEGO-Virus meiner Kindheit wieder erwischt. Anders als bei den Windpocken scheint man nach einem akuten Ausbruch in der Kindheit dagegen allerdings nicht ein Leben lang immun zu sein. In einem Anfall von Lust auf Retro-Erfahrungen erwachte in der Quarantäne in nur wenigen Wochen meine gesamte Raumfahrt-Sammlung wieder zum Leben. Als ich im Internet nachschaute, was die einzelnen Sets heute zum Teil wert sind, staune ich – geschenkt! – Bauklötze. Ich sage nur: Monatsmieten!

Szenenwechsel: Eine unscheinbare Wohnungstür in einem Mehrfamilienhaus in Gerlingen. Es öffnet Robin Leinberger, 32 Jahre alt und von Haus aus im Qualitätsmanagement tätig. Die nächsten eineinhalb Stunden vergehen wie im Flug: Ich besuche die Tower Bridge in London (Wohnzimmer), reise nach Manchester ins altehrwürdige Old-Trafford-Stadion (Flur) und betrachte ehrfürchtig die Vitrinen im Arbeitszimmer. Alles, was in Modellform mit den vielseitigen Klemmbausteinen irgendwie konstruiert werden kann, scheint Robin in seiner Wohnung, in der er gemeinsam mit Ehefrau Nicole lebt, auszustellen, sorgfältig beschriftet und winkelgenau ausgeleuchtet.

„Besonders die Brickheads haben es mir angetan“, schmunzelt der in der Kindheit durch LEGO-Technic-Sets auf den Geschmack gekommene Robin, „die sind so klein und sammelbar. Die Bauzeit entspricht ziemlich genau meinem Bedürfnis nach einer kleinen Entspannung zwischendurch.“ Brickheads? „Das sind Modelle mit übergroßen Köpfen, die Berühmtheiten aus der Comic- und Actionwelt darstellen.“ Ach so! „Seit ich mit gut sechs Jahren mein erstes LEGO-Set zum Geburtstag bekommen habe, bekomme ich jedes Jahr ein neues, daran hat sich bis heute nichts geändert.“

Auch die berühmten Minifiguren, die mittlerweile in knapp 30 Serien erschienen sind, lächeln mich an. Sorgfältig wie ein Schmetterlingssammler hat Robin diese in quadratischen Vitrinchen drapiert und eine Wandseite seines Minimuseums ausschließlich mit diesen gestaltet. Wenn er nicht gerade – vorwiegend im Stehen – neue Sets vitrinenreif baut, ist er europaweit in LEGO-Läden unterwegs: „Die Einweihung des LEGO-Stores in Amsterdam habe ich live miterlebt, aber der in London ist ebenfalls wunderbar.“

Robin und ich sind als sogenannte „AFOBs“ („Adult Fans of Bricks“, auf Deutsch: „Erwachsene Klemmbaustein-Fans“) Teil einer weltumspannenden Szene. Die Marke LEGO erwirtschaftet mittlerweile einen Großteil ihres Umsatzes mit dem Verkauf für Sets an Erwachsene, andere Hersteller und Vertriebe ziehen nach. Während ich mich noch erinnern kann, wie ich mir mit sechzehn Jahren einmal ein Set als Geschenk verpacken ließ, damit nicht auffiel, dass ich es für mich kaufe, stehen heute Menschen aller Altersstufen zu ihrem Faible.

Der Trend zieht weite Kreise: Der YouTuber „Held der Steine“, der seit vielen Jahren auf seinem Kanal Sets bespricht, unterhält stabil weit über 800.000 Abonnenten. Die Show „LEGO Masters“ ist aus dem Abendprogramm nicht mehr wegzudenken. In einer Zeit, in der der Einzelne immer weniger Überblick über die großen weltwirtschaftlichen Zusammenhänge hat und Politik nicht mehr ernsthaft daran interessiert ist, Menschen und ihre Anliegen ernst zu nehmen, reagieren manche mit Angst und Sorge. Andere werden lieber kreativ und widmen sich der Erschaffung eigener kleiner Welten. LEGO ist mittlerweile zur Entsprechung der Modelleisenbahn geworden, die unseren Vätern einst heimelige Stunden im Hobbykeller verschaffte. Als Modellbau getarnt, wurde so Abend für Abend der Spieltrieb des inneren Kindes genährt.

Die Wohnungstür in Gerlingen schließt sich. Und während Robin sich jetzt noch einem kleinen Auto widmen will, werde ich wohl noch für ein paar Stündchen auf dem Dachboden verschwinden. Wir sind mit Sicherheit nicht die einzigen erwachsenen Sauerländer, die diesen Abend als Herren ihrer ganz eigenen Welten rascheln, klicken und klacken – im Sog der bunten Steine.