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Carmen Otto aus Lennestadt-Halberbracht liebt den Extremsport und meistert schier unmögliche Herausforderungen.
Oberstdorf im September 2019. Carmen Otto steht am Start. Sie ist nervös, in Gedanken geht sie noch einmal die vorgeschriebene Packliste durch: ‚Habe ich alles dabei? Regenbekleidung, Handschuhe, die Ration Flüssigkeit, Notfallpfeife, Pflaster, die geforderten Energieriegel … Die Schiedsrichter sind streng.‘ Fehlt etwas, darf sie nicht starten. Glück gehabt – alles dabei. Es kann losgehen. Gemeinsam mit ihrem Teampartner und Lebensgefährten Peter Schneider möchte sie den Transalpin Run über 274 Kilometer Strecke mit 37.000 Höhenmetern in nur acht Tagen laufend meistern. Es ist eines der härtesten Team-Etappenrennen der Welt. Brütende Hitze, heftige Regenfälle, Neuschnee und kräftige Winde werden zu einer weiteren Herausforderung auf der Strecke werden. 350 Teams mit insgesamt 700 Läuferinnen und Läufern stellen sich der Herkulesaufgabe. Was ist das für ein Mensch, der sich einer solch fast unmenschlichen Aufgabe stellt? Und was treibt ihn an?
Fotografin Gaby und ich treffen Carmen an einem herrlichen Sommerabend zum Interview. Sie kommt, ganz Sportlerin, mit dem Rad. Doch nicht nur für die Anreise zu unserem Gespräch nutzt die Halberbrachterin ihren Drahtesel, der zugegebenermaßen motorisiert ist. „Ich fahre damit jeden Tag zur Arbeit nach Olpe und natürlich auch zurück, wenn es die Arbeitszeiten und das Wetter zulassen. Da bin ich froh, dass ich ein E-Bike habe“, erzählt die 46-Jährige. Das sind immerhin über 60 Kilometer pro Tag mit ordentlichen Höhenmetern. Bevor sie allerdings zur Arbeit fährt, läuft sie „mal eben“ eine lockere 10 Kilometer Runde durch die heimischen Wälder. Wir merken: Sport ist ein elementarer Bestandteil von Carmens Leben. Dass es allerdings extreme sportliche Herausforderungen sind, für die sie sich begeistert, war anfangs nicht abzusehen.
Mit vier Jahren auf Abfahrtski
„Mein erster Sport war das alpine Skifahren. Ich bin früher, als es noch richtige Winter gab und man sich auf genügend Schneeflocken verlassen konnte, mit meinem Vater, meiner Schwester und Freunden regelmäßig an der Hohen Bracht gefahren. Unter Flutlicht Skifahren mit Musik und netten Menschen, das war großartig“, erinnert sich die gebürtige Kirchhundemerin an ihre ersten sportlichen Gehversuche. „Dann war der TV Kirchhundem, bei dem ich bis heute Mitglied bin, prägend für meine jugendlichen Hobbys. Ich liebte die Leichtathletik und trainierte auch gemeinsam mit Vereinskolleginnen und -kollegen die Jüngeren. Das Laufen wurde erst später meine Leidenschaft.“
Im Jahr 1992 gab es einen Staffellauf von Kirchhundems französischer Partnerstadt Houplines zurück in den Sauerländer Heimatort, der den Startschuss für die Laufbegeisterung der heutigen Marathonläuferin und Extremsportlerin gab. „Wir haben mit ein paar Leuten zusammen unter Martin Kuhlmann trainiert und den Staffellauf geschafft. Der Zieleinlauf war ein toller Moment mit vielen Zuschauern, die uns Läuferinnen und Läufer bejubelt haben. Von da an ging es los“, beschreibt Carmen dieses besondere Ereignis.
Mit den Schmerzen eines Marathonis
Sie beginnt mit dem Lauftraining. Erst fünf Kilometer, dann zehn. Sie merkt schnell, was ihr liegt und was nicht: „Ich liebe es durch den Wald und die Natur zu laufen, Trails auszuprobieren und ich genieße die Stille dort. Laute Musik auf den Ohren funktioniert daher bei mir gar nicht. Auch eintönige Rundenläufe auf dem Sportplatz oder Straßenläufe sind nicht meins. Besonders gern erinnere ich mich an die Zeit, als ich mit Ulla Cordes und Ulrike Wilbrand bei der LG Südsauerland im Team gelaufen bin. Nach einer Weile wollte ich mich einer besonderen Herausforderung stellen und meldete mich 2004 zu meinem ersten Marathon, dem Königsforst Marathon, an. Die Strecke verlief durch den Wald und war daher perfekt für mich.“ Aber ihr passierte, was nicht nur den jungfräulichen Marathonis passiert: die letzten Kilometer taten höllisch weh und Verzweiflung quälten die junge Läuferin. Doch trotz körperlicher Schmerzen und mentaler Tiefpunkte schaffte sie es. „Und nach ein paar Tagen denkt man: Sooo schlimm war das doch gar nicht! – und macht weiter“, berichtet Carmen von ihrem ersten 42-Kilometerlauf.
Und wie sie weitermacht. Sie liebt die langen Strecken in den Wäldern, Auftritte vor Hunderttausenden sind nicht ihr Ding, so käme ein Berlinmarathon für sie überhaupt nicht infrage. Doch die Herausforderungen steigen. Auch im Skilanglauf sucht sie ihre Aufgaben: Carmen bewältigt die 90 Kilometer beim legendären Wasa-Lauf in Schweden und den Doppelstart beim König-Ludwiglauf in Oberammergau über die Langdistanzen; läuferisch den FALKE Rothaarsteig-Marathon, welchen sie allein sieben Mal gewinnen konnte. Dieser beinhaltet nicht nur über 800 Höhenmeter, sondern auch viele anspruchsvolle Trails.
Mit Spaß und einem verlässlichen Partner
Doch wie ist es möglich, derartige Herausforderungen zu bewältigen? Carmen lächelt: „Man darf den Spaß an der Sache nicht verlieren. Das ist das Wichtigste. Ich liebe meinen Sport und es macht mir unglaublichen Spaß zu trainieren und neue Ziele zu haben. Dabei kenne ich sehr genau die Grenzen meines Körpers. Diese unsichtbare rote Linie sollte man nicht überschreiten, ansonsten war es das mit dem Sport. Ich habe viele Lauftalente erlebt, die zu Höchstleistungen getrieben wurden und nach kurzer Zeit ihre Karriere an den Nagel hängen mussten. Sie haben ihre Grenzen nicht ernst genommen.“
Außerdem hat sie mit Extremsportler Peter Schneider einen absolut verlässlichen Partner, der nicht nur im Privaten, sondern auch im Sportlichen an ihrer Seite steht. „Peter und ich begegnen uns auf Augenhöhe und unterstützen uns gegenseitig. Er ist bei extremen Herausforderungen eine mentale Stütze, die sehr wichtig ist. Wir freuen uns schon bald auf neue Ziele. Im kommenden Winter wäre ein Ski-Event in den skandinavischen Ländern wünschenswert. Vielleicht wieder zum Birkenbeiner Skirennen“, so das sportliche Multitalent.
Die Leidenschaft weitergeben
Doch die beiden möchten sich nicht nur auf die eigenen sportlichen Aktivitäten beschränken, sondern ihr Wissen und ihre Erfahrung teilen. „Gemeinsam mit Jörg Heiner, dem hoch dekorierten Läufer, möchten wir als Langstreckenläufer die sportliche Leidenschaft weitergeben“, beschreibt Carmen das Ziel ihrer Laufschule, bei der sie Läuferinnen und Läufern wie du und ich das „Laufen“ beibringen. Dazu gehören beispielsweise die Laufstilanalyse, die Ermittlung von Fitnesswerten, Beschreibung von Zielvorstellungen, Videoanalysen und so weiter. „Ich möchte die Menschen zu sportlichen Aktivitäten motivieren. Dabei ist mir der gesundheitliche Aspekt äußerst wichtig“, berichtet Carmen. Daher hat sie sich nicht nur zur Skiinstruktorin ausbilden lassen, sondern theoretische Kenntnisse in vielen Bereichen erlangt, wie zum Beispiel in der Ernährungsberatung, im Faszientraining oder der Leistungsdiagnostik.
Carmen Otto strahlt Begeisterung, aber auch eine gewisse Gelassenheit in Bezug auf ihren Sport aus, vermittelt authentisch den Spaß und ihre Leidenschaft für das Laufen und die Bewegung. So überzeugt sie mich nach unserem Interview, dass Nordic Walking mitunter das beste Ganzkörpertraining ist und wirklich Spaß macht. Meine Stöcke habe ich jedenfalls für das Wochenende schon entstaubt. Sport und Spaß klingt doch gut! Wenn es dann noch gesund ist …
Und nur mit viel Spaß an der Sache und einem ausgeklügelten Trainingsplan ist es möglich, eine Herausforderung wie den Transalpine Run zu meistern. Nach acht Tagen, die alles von den Läuferinnen und Läufern gefordert haben, laufen Carmen und Peter unter den Top Ten ihrer Altersklasse ins Ziel in Sulden am Ortler. „Ein Wahnsinnsgefühl! Im Ziel liefen mir die Tränen. Unfassbar anstrengende Tage lagen hinter uns. Ich war so müde im Kopf und konnte erst ein paar Tage später wirklich realisieren, was wir geschafft haben.“ Diese Erfahrung war so unglaublich beeindruckend, dass die beiden 2023 wieder antreten werden. „Dann sind Peter und ich zusammen 100 Jahre alt. Mal schauen, ob wir es dann noch einmal schaffen.“ Ich habe da übrigens gar keinen Zweifel.