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Bernhard Pauly, das Gedächtnis eines legendären Ortes
„Sie müssen sich unbedingt mal mit Herrn Pauly treffen!“ – Mehrere WOLL-Leser meldeten sich in den vergangenen Monaten und lenkten unser Interesse auf diesen Bernhard Pauly aus Wirme. „Der war früher Lehrer und weiß eine ganze Menge zu erzählen: vor allem über den Kohlhagen und über die Geschichte des Sauerlandes“, hatte uns Pastor Paul Nikolajczyk schon im Sommer vergangenen Jahres bei einem Treffen in Altenhundem erzählt. Ende Februar trafen wir den 93-jährigen, ehemaligen Dorflehrer Bernhard Pauly in seinem Haus in Kirchhundem-Wirme.
„Das ist aber schön, dass Sie gekommen sind!“ Fröhlich begrüßt uns ein äußerst freundlicher Sauerländer, man denkt an ein Urgestein. Die silbergrauen Augenbrauen des vitalen Opas fallen auf, erinnern spontan an Theo Waigl. Ein wacher Blick und die einladende Mimik und Gestik lassen uns willkommen fühlen. Wir schauen Bernhard Pauly zu, wie er altersentsprechend frischen Kaffee für uns brüht und dabei über die Einsamkeit in dieser Zeit spricht. „Den ganzen Tag keinen sprechen, das ist nicht gut“, sagt der 93-Jährige. Seit zwei Jahren hat er seinen Sohn, die Schwiegertochter und die Enkel nicht mehr gesehen. Seine Frau ist vor 27 Jahren gestorben. Bernhard Pauly setzt sein schönstes Lächeln auf: „Ein Gast im Haus. Gott im Haus“, sagt er. „Das ist ein polnisches Sprichwort.“
Etwas Vernünftiges machen
Mit Papst Benedikt XVI hat Bernhard Pauly das Geburtsjahr und den Geburtsmonat April 1927 gemeinsam. Als junger Mann muss er als Soldat in den Krieg ziehen. Am Ende Gefangenschaft in Frankreich. Sechs Monate auf freiem Feld mit großen Entbehrungen überlebt. Zurück in der Heimat wird das Abitur nachgeholt. Ein Studium der Philosophie und Theologie in München folgt. Bernhard Pauly wird Lehrer. „Wir wollten nach dem Krieg etwas Vernünftiges machen“, sagt er. „Soldat sein, war menschenunwürdig. Bei 50 Millionen Toten bin auch ich schuldig.“ Man ahnt, wie die Ereignisse und Erfahrungen des Krieges das Gewissen von Bernhard Pauly nicht ruhen lassen. Als Lehrer in Wirme hat er acht Jahrgänge in einer Klasse unterrichtet. „Ich habe die Schülerinnen und Schüler immer belohnt, wenn sie einen Fehler bei dem feststellten, was ich erzählt habe. So waren sie immer aufmerksam.“ Trotz der beengten Räumlichkeiten muss die Schulzeit bei Lehrer Pauly lehrreich und schön gewesen sein.
Mantelsaum der Mutter Gottes
Ohne Zweifel: Wirme und Bernhard Pauly gehören zusammen. Der ehemalige Dorfschullehrer hat alle Informationen über den Ort parat. „Wirme ist der Mantelsaum der Mutter Gottes“, schmunzelt Bernhard Pauly. Denn oben auf der Anhöhe im Südwesten liegt der legendäre Ort Kohlhagen mit seiner weit über die Grenzen des Sauerlandes hinaus bekannten Wallfahrts- und Pfarrkirche Mariä Heimsuchung und der damit verbundenen Marienverehrung. Wenn Wirme der Mantelsaum der Muttergottes ist, dann ist Bernhard Pauly das Gedächtnis der ganzen Kohlhagen- Geschichte. 1990 ist ein 450 Seiten umfassendes Buch mit dem Titel „500 Jahre Wallfahrtskirche Kohlhagen“ erschienen. Durch die Veröffentlichung der vor allem von Bernhard Pauly gesammelten Daten und Fakten, ergänzt durch eigene Forschungen über die Wallfahrtskirche, ist ein einzigartiges Nachschlagewerk über diesen wichtigen Ort Sauerländer Geschichte entstanden.
Bereits im ersten WOLL-Magazin für Kirchhundem, Lennestadt und Finnentrop im Herbst 2012 weckte ein Bericht „Wo wohnse? Kohlhagen!“ große Neugier und den Wunsch, mehr über den damals von acht Personen (eine fünfköpfige Familie und drei Ordensschwestern) bewohnten Ort zu erfahren.
Die Zukunft begann gestern
Bernhard Pauly hat die Geschichte zum Kohlhagen bei Wirme für uns und für die Zukunft aufgeschrieben. In ehrlicher Bescheidenheit schreibt er als Bernard Pauros (griechisch = klein, gering) damals im Vorwort: Die Zukunft begann gestern! – Über Jahrhunderte hinweg sind unsere Voreltern den Berg zu „Unser lieben Frauen“ Kirche emporgestiegen. „Sie wanderten, trugen ihren Glauben, schleppten ihre Müdigkeit durch die Jahrhunderte hin. Zahllose, im ganzen genommen nach Millionen zu zählen. Ein Menschheitszug durch die Zeitalter, von dem etwas unsäglich Ergreifendes ausgeht.“ Das schrieb Helmut Domke in seinem Buch über die Wallfahrt nach Compostella. Und das gilt auch für die Geschichte vom Kohlhagen. Es ist deshalb eine lange und wahrlich ergreifende Geschichte, die sie hinter sich hat. Der ganze tiefchristliche Glaube unserer Vorfahren wird hier im Anblick des kraftvollen Gebäudes mit seiner großartigen Inneneinrichtung sichtbar, bewunderungswürdig und erlebbar.
Lauscht man gespannt den Erzählungen von Bernhard Pauly über den Kohlhagen, ist die Faszination, die von diesem Ort ausgeht, spürbar. „Nur wenige Kilometer südlich der Kirche verlief seit alters her die Grenze zwischen den Sachsen und den Franken auf der anderen, der Siegerländer Seite. Der im Laufe der Erdgeschichte geschaffene Gebirgskamm des Rothaargebirges bildete eine natürliche Abgrenzung, die nicht nur die Niederschläge in zwei Richtungen trennte, sondern auch die Sprache teilte und zuletzt nach der Glaubensspaltung noch unnötige Feindschaften und Fehden unter den Nachbarn säte“, steht in der Broschüre „Die Pfarr- und Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung auf dem Kohlhagen“ von Bernhard Pauly. Und weiter: „Wer aber von Süden her das alte Kohlhagener Land betritt oder es befährt, der wird überrascht sein von der Schönheit und Bewegtheit der sauerländischen Bergwelt. Sein Auge wird nach kurzem Verweilen geradezu unvermeidlich von einem Kirchenbau in den Bann gezogen, den man hier weiß Gott nicht vermutet: Auf dem 500 Meter hohen Berg, in der Einsamkeit des weiten Gebirges, steht eine Kirche – keine Kapelle! Ihre Dominanz geht soweit, dass sie uns fortan zur Orientierungshilfe wird. Sie drängt sich förmlich in den Weg.“
Unübersehbar und geheimnisvoll
Doch – und da liegt das Geheimnisvolle – wenn der Reisende sie suchen sollte und dem Straßenverlauf folgt, nimmt er sie nach einer Weile nicht mehr wahr. Die Marienkirche auf dem Berg will strenggenommen erwandert werden – auf Umwegen. Bernhard Pauly: „Hier in dieser früher so unwirtlichen Gegend haben unsere Voreltern einst ihre Landschaft pflegend und sorgend mitgestaltet und durch den Kirchenbau einen weithin sichtbaren Wertakzent gesetzt. Die Pfarr- und Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung spiegelt deren bewusst akzeptierte christliche Werthierarchie auf unübersehbare Weise wider.“ In wenigen Wochen wird Bernhard Pauly 94 Jahre alt. Die Geschichte der geheimnisvollen Kirche auf dem Kohlhagen hat ihn sein ganzes Leben begleitet: als Kind, als Soldat, als Lehrer, als Kirchenführer. Es gibt noch so viel zu erzählen. Wir werden wiederkommen. Versprochen! Zum Abschied zitiert der Kohlhagen-Kenner noch die ersten Zeilen eines Gedichtes von Manfred Hausmann: Ich möchte eine alte Kirche sein. Es scheint, dass dieses Gedicht dem liebenswürdigen Sauerländer Urgestein Bernhard Pauly gewidmet ist.
Ich möchte eine alte Kirche sein
Ich möchte eine alte Kirche sein
voll Weihrauch, Dunkelheit und Kerzenschein.
Wenn du dann diese trüben Stunden hast,
gehst du herein zu mir mit deiner Last.
Du senkst den Kopf, die große Tür fällt zu.
Nun sind wir ganz alleine, ich und du.
Ich streichle dich mit Dämmerung und Rauch,
ich segne dich mit meinem Herzen auch.
Ich fange mit der Orgel an zu singen …
Nicht weinen, nicht die Hände heimlich ringen!
Hier hinten, wo die beiden Kerzen sind,
komm, setz dich hin, du liebes Menschenkind!
Glück … Unglück … alles ist von Schmerzen schwer.
Sei still, versinke, denk an gar nichts mehr!
In den Gewölben summt’s, die Kerzenflammen
schimmern so lautlos hinter dir zusammen.
Vom Orgelfuß die Engel sehn dir zu
und flöten still und singen dich zur Ruh.
Ich möchte eine alte Kirche sein
voll Weihrauch, Dunkelheit und Kerzenschein.
Wenn du dann diese trüben Stunden hast,
gehst du herein zu mir mit deiner Last.
(Manfred Hausmann)