Tobias Cramer, Trainer der Sportfreunde Siegen
Diesen Moment wird Tobias Cramer, gebürtiger Wiemeringhauser und Wahl-Willinger, nie vergessen: In Kassel sitzt er vor ausverkauftem Stadion auf der Trainerbank. Im August 2015 ist das, in der ersten Hauptrunde des DFB-Pokals gegen Hannover 96. 18.000 Zuschauer. Ein Jahr später ist er selbst Cheftrainer der ersten Mannschaft von KSV Hessen Kassel in der Regionalliga Südwest. Nur drei Klassen unter der ersten Bundesliga erlebt er für drei Jahre alle Höhen und Tiefen des Trainergeschäftes. Die Verantwortung und das Glück, vor tausenden Zuschauern zu gewinnen oder beim internationalen Trainerkongress zu referieren. Und die Machtlosigkeit, wenn eine Mannschaft, die sportlich funktioniert, für einen hoch verschuldeten Verein spielt. Seit dem 1. Januar 2020 trainiert Tobias Cramer die „Erste“ der Sportfreunde Siegen. Im Woll-Interview schildert er, wie ein Trainerleben zwischen Amateur- und Profi-Fußball und mit Familienanschluss so aussieht.
Woll: Wie wird man hauptberuflicher Fußballtrainer?
Tobias Cramer: Grundsätzlich wollte ich erst einmal durch mein Studium an der Sporthochschule in Köln fundiertes Wissen bezüglich der Sportwissenschaften erlangen. Im Hauptstudium habe ich mich dann spezialisiert und im Spezialgebiet „Trainerprofil“ meinen Abschluss gemacht. Aber schnell war klar, dass man viele Kontakte braucht, um wirklich im Trainergeschäft Fuß zu fassen. Im Jahr 2014 fragte mich mein Trainerkollege Matthias Mink, damals Cheftrainer in Kassel, ob ich sein Co-Trainer werden möchte. Ich sagte zu und war zuerst parallel noch zwölf Stunden als Lehrer-Trainer am Goethe-Gymnasium in Kassel tätig. 2015 bin ich dann hauptamtlicher Co-Trainer geworden. Das war schon ein toller Moment. Meine Familie und ich kannten bis dahin nur Berufstätigkeit mit anschließendem Trainerjob (nebenberuflich) auf dem Fußball-Platz.
Woll: Wollten Sie selbst mal Fußball-Profi werden?
Tobias Cramer: Natürlich. Und ich hatte sicher viel Talent, aber das allein reicht nicht. Ich war, aus der jetzigen Reflexion heraus, nicht fokussiert genug, um in jungen Jahren den Schritt in den Profifußball zu schaffen. Ich war noch Schlagzeuger in einer Band und gerne auch außerhalb der Schule mit meinen Freunden unterwegs. Die Zeit, in der ich mit Willingen zum Teil in der Oberliga gespielt habe, zwischen 1993 und 1999, war klasse. Das war damals die dritte Liga, das war schon ein hohes Niveau.
Woll: Haben Sie Ihre Berufswahl mal bereut?
Tobias Cramer: Ich habe sie noch nie bereut. Der (Fußball-)Sport ist meine Leidenschaft. Schön ist es natürlich, wenn man Fußballwettkämpfe erfolgreich bestreitet. Das ist nun mal so. Die ganze Atmosphäre in Kassel, alles war so professionell, es gab so viele tolle Momente – gerade 2016, als ich für drei Jahre als Fußballcheftrainer war und wir in Offenbach vor 6000, in Mannheim vor 8000 Zuschauern gespielt haben. Außerdem durfte ich als Cheftrainer den Rekordversuch gegen Baunatal in der 5. Liga miterleben – über 16.000 Zuschauer – Wahnsinn. Die fünf Jahre in Kassel waren nervenaufreibend, aber gleichzeitig einfach toll, auch die Fanszene hat mich super verabschiedet.
Woll: Und danach?
Tobias Cramer: Danach habe ich erst mal ein halbes Jahr nichts gemacht. Runterkommen, sondieren, gucken, was sich auf dem Markt bewegt. Dann haben sich die Sportfreunde Siegen gemeldet und ich habe entschieden, dass ich ab den 1.1.2020 dort Trainer werde. Wir haben in den letzten vier Spielen vor dem Lock-Down zehn Punkte geholt. Aber die Pandemie hat uns wieder ausgebremst, Kurzarbeit ist angesagt. Es gibt individuelle Trainingspläne, die über Apps kontrolliert werden. Die Spieler sind sehr motiviert und schicken Videos mit ihren Athletik-Einheiten. Ich fahre einmal die Woche ins Büro nach Siegen und bin gespannt, wann wir wieder spielen dürfen. Außerdem muss jetzt schon die neue Saison geplant werden.
Woll: Ist es nicht anstrengend, so in der Öffentlichkeit zu stehen?
Tobias Cramer: Das gehört dazu. Wichtig dabei ist, die persönlichen Eitelkeiten nicht in den Vordergrund rücken. In der Öffentlichkeit zu stehen, sollte die niedrigste Priorität genießen. Solange ich noch normal einkaufen gehen kann und mich nicht jeder auf Fußball anspricht, ist alles in Ordnung. Ich lasse mir meine Oase Willingen nicht nehmen. Es war mir und der Familie immer wichtig, dass es eine räumliche Distanz zwischen meinem Wohnort und dem Vereinsort gibt. Dafür fahre ich auch gerne viele Kilometer.
Woll: Und die Familie, wie findet sie einen Papa, der Trainer ist?
Tobias Cramer: Meine Frau hat mich als Fußballer in Willingen kennengelernt. Sie kennt mich also nicht ohne den Fußballsport. Unsere Jungs haben in der Zeit in Kassel nach den Spielen immer in der Kabine gesessen und mit den Spielern geredet. Aber auf der anderen Seite ist es ganz pragmatisch mein Job. Ich fahre ja mit meiner Frau auch nicht ins Büro. In diesem Job muss ich genauso funktionieren, wie alle anderen in ihren beruflichen Tätigkeiten auch. Die Zeit als Familie nehmen wir uns dann, wenn es möglich ist.
Streckbrief:
Tobias Cramer, 46 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, ist Diplom-Sportlehrer und hat die A-Trainer-Lizenz; er spielte in der Jugend bei Rot-Weiß Wiemeringhausen und beim TSV Bigge-Olsberg und in den 90ern unter anderem beim SC Willingen und dem SSV Meschede. Noch während seines Studiums war er Co-Trainer der U-16-Mannschaft des 1. FC Köln und später Trainer der U17 des SC Paderborn.