Historiker und Archivar Wilfried Reininghaus

Interview Wilfried Reininghaus

Münsterländische Bucht und Sauerland gehören zusammen

Das Sauerland ist aktuell in aller Munde. Ein Politiker verspricht „Mehr Sauerland für Deutschland“. Das Sauerland ist eine der größten Wirtschaftsregionen in Deutschland und gleichzeitig eine sehr attraktive Mittelgebirgsregion. Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Was sagt ein Historiker dazu?

Das WOLL-Magazin spricht über den Trend mit dem 1950 in Sauerland-Schwerte geborenen Wilfried Reininghaus. Er ist ein Märkischer Sauerländer mit großer Liebe zum Kurkölnischen Sauerland. Der Historiker und Archivar war von 2004 bis 2013 Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen. Reininghaus ist auch außerplanmäßiger Professor für Westfälische Landesgeschichte an der Universität Münster und ehemaliger Erster Vorsitzender der Historischen Kommission für Westfalen.

1.250 Jahre Westfalen

WOLL: Herr Reininghaus, was sagen Sie als Historiker und anerkannter Kenner der westfälischen Geschichte zur Region Sauerland?

Wilfried Reininghaus: Ich freue mich, dass sich das Sauerland aus einer Situation befreit hat, die im späten 19. Jahrhundert noch völlig anders war. Das Sauerland war damals in gesamtpreußischer Perspektive teilweise ein Notstandsgebiet. Es freut mich, dass sich das Sauerland im 20.Jahrhundert als Gebiet mit mittelständischer erfolgreicher Industrie etabliert hat. Damit hat es an eine Zeit im Mittelalter und im 16. Jahrhundert angeknüpft, als es erfolgreiches Montanrevier war. Im 19. Jahrhundert verlor es gegenüber dem Ruhrgebiet.

WOLL: In diesem Jahr 2025 feiert Westfalen mit seinen acht Millionen Einwohnern das 1.250-jährige Jubiläum. Was bedeutet das?

Wilfried Reininghaus: Aus Sicht des Historikers ist es eine Erinnerung daran, dass im Jahr 775, in der Karolingerzeit, Mönche in Frankreich notiert haben, dass es im Gebiet von Sachsen eine Volksgruppe gebe, die sie auf lateinisch Westfälinger genannt haben. Das ist eher ein Zufall der Überlieferung. Daran zu erinnern, ergibt trotzdem Sinn. Historiker sind gegenüber Jubiläen ja immer etwas skeptisch. Aber festzuhalten ist: In den 770er Jahren trat ein grundsätzlicher Wandel in der westfälischen Geschichte ein. Die Karolinger eroberten das rechtsrheinische Sachsen und haben damit Grundlagen für die weitere kulturelle Entwicklung von Westfalen geschaffen. Ab ungefähr 800 wurden Klöster gegründet. Die ganze spätere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung hätte ohne die damaligen Feldzüge nicht stattgefunden. Insofern hat die Etablierung der Karolingerherrschaft mit der Einführung des Christentums in Westfalen eine tiefe Zäsur geschaffen. Daran zu erinnern ist legitim.

Wilfried Reininghaus

WOLL: Bei Westfalen werden drei oder vier Teilregionen genannt: Münsterland, Ostwestfalen, Lippe und das Sauerland. Das klingt nicht nach einer Einheit?

Wilfried Reininghaus: Sie haben recht. Bis 1806, bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen, gab es in Westfalen mehrere Territorien, die in das heutige Westfalen passen. Die Einheit von Westfalen, wie wir sie heute kennen, ist ein Produkt des Wiener Kongresses 1815, als Preußen Anspruch auf das gesamte Westfalia erhob. 1816/17 kamen noch das Siegerland und Wittgenstein hinzu. Es entstand die Provinz Westfalen mit der Hauptstadt in Münster. Bis die Einheit Westfalens auch in den Köpfen entstand, dauerte es noch lange. Diese Einheit konkurriert aus meiner Sicht heute noch mit den Teilidentitäten. Westfalen ist eine zusammengesetzte Region, die zunächst nur eine Verwaltungseinheit war. Lippe kam erst 1947 dazu. Seitdem haben wir ein Westfalen in der heutigen Ausdehnung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Eigentlich ist Westfalen eine übergeordnete Identität. Die Menschen haben zuerst eine lokale Identität. Das bedeutet für Ihre: zuerst das Sauerland, die nächste Stufe ist Westfalen, danach Nordrhein-Westfalen.

Sauerland, das Herz Westfalens?

WOLL: Kommen wir zur südlichen Region Sauerland, was vor allem aus dem ursprünglichen Herzogtum Westfalen besteht. Ist das Sauerland somit das Herz Westfalens?

Wilfried Reininghaus: Sie werden möglicherweise meine Antwort nicht unbedingt mögen. Es gab um 1240 den Dominikanermönch Bartholomäus Angelicus, der über die Gegend um Soest schrieb, es habe sowohl das Salz und den fruchtbaren Boden in der Börde als auch das Erz im Sauerland. Ich sehe in seiner Nachfolge Westfalen als ein Gebilde, das schon aus wirtschaftlichen Gründen zwei Teile hat, die zusammengehören: die münsterländische Bucht und das Sauerland. Das kann man erkennen, wenn man auf dem Haarstrang von Dortmund nach Rüthen radelt. Auf der linken Seite gibt es die Ebene mit Soest, Werl und in der Ferne den Teutoburger Wald, zur rechten Hand haben wir das Sauerland. Deswegen fällt es einem Historiker mit Raumbezug schwer zu sagen, dass das Sauerland das Herz Westfalens ist. Man braucht beides, um Westfalen in der Gesamtheit zu sehen.

WOLL: Das Sauerland wird von außen häufig als ländlich, bäuerlich, hinterwäldlerisch bezeichnet. Dabei hat schon die wohl bekannteste und bedeutendste westfälische Dichterin, Anette von Droste-Hülshoff, mit großem Respekt von den unternehmerischen Sauerländern berichtet. Wie ist das historisch zu sehen?

Wilfried Reininghaus: Das kann man wirklich bestätigen. Droste-Hülshoff hat bei ihren Reisen durch das romantische Westfalen Menschen kennengelernt, die gerade wegen schwieriger agrarischer Lage gezwungen waren, ihre Geschäfte erfolgreich außerhalb zu machen. Dies gilt vor allem für die Winterberger Wanderhändler.

WOLL: Sie haben ein besonderes Interesse für das kurkölnische Sauerland. Vor einiger Zeit haben Sie den Städteatlas Fredeburg herausgebracht, in Kürze soll ein Städteatlas Lennestadt (Bilstein) erscheinen.

Wilfried Reininghaus: Ich habe meine Berufslaufbahn am westfälischen Wirtschaftsarchiv in Dortmund begonnen, mit einer Zuständigkeit für das gesamte Westfalen. Das Wirtschaftsarchiv ist eine Einrichtung der Industrie- und Handelskammern in Westfalen und hat eine gesamtwestfälische Zuständigkeit. Ich habe zunächst an märkischen Themen gearbeitet, weil es da viele Sachen gab, die noch aufgearbeitet werden mussten. Dann kam das Thema Montanindustrie auf. Dabei fiel mir auf, dass der Bergbau im Sauerland in Vergessenheit geraten war. Daraus entstand eine Idee, getragen von der historischen Kommission Westfalen, dem westfälischen Heimatbund und der Boden- und Denkmalpflege, den Bergbau im Sauerland systematisch zu erschließen. Ich bin als Historiker mit dem Sauerland vertraut geworden, aber auch als Tourist, weil ich überall mit dem Rad hingefahren bin.

WOLL: Haben Sie einen Lieblingsort oder Lieblingsplatz im Sauerland?

Wilfried Reininghaus: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich so viele Orte kenne. Einer ist der Haarstrang, wo man – wie beschrieben – nach links und rechts kann. Gerne denke ich an die alten Kirchen von Berghausen und Wormbach. Sie sind ein besonderes Highlight. Es gibt zwei Radfahrstrecken, die ich unbedingt nennen möchte, die erste von Fleckenberg zum Jagdhaus hoch und dann runter nach Wingeshausen im Siegerland und die zweite durch das Sorpetal hinter Altastenberg. Beide sind heraus-fordernd und haben mir immer sehr viel Spaß gemacht.

WOLL: Sie forschen auch an dem Thema 50 Jahre Kommunalreform. Wie sehen Sie nach 50 Jahren die Kommunalreform im Sauerland?

Wilfried Reininghaus: Diese Kommunalreform war eine von oben geplante Reform, die niemand wollte. Ich glaube aber, dass die alten Ämter wie Bilstein (Grevenbrück), Kirchhundem usw. den Aufgaben des späten 20. und des 21. Jahrhunderts nicht gerecht geworden wären. Die Kommunalverwaltungen sind durch die Reform besser aufgestellt worden. Die Kommunalreform hat deshalb in der breiten Fläche positive Wirkung.

WOLL: Vielen Dank, Herr Reininghaus, für den Einblick, den Sie uns in die Geschichte des Sauerlandes gewährt haben. Und wir können mit Ihren Antworten gut leben!