Fünfhundert Morgen Himmelblau

Peter Bürger

Für den sauerländischen Weihnachtsbüchertisch 2021 hat der Schmallenberger WOLL-Verlag in Kooperation mit dem Christine Koch-Mundartarchiv am Museum Eslohe jetzt ein Buch mit besonderen Zugängen zur ehemaligen Alltagssprache im südlichen Westfalen veröffentlicht:

Die Grundidee hinter diesem Werk ist es, über ein Thema, das jeden Menschen betrifft, Interesse für die plattdeutsche Literatur der Region zu wecken. Als Herausgeber leite ich die Anthologie, die Texte aus unterschiedlichsten Zeiten zusammenführt, mit einem kulturgeschichtliche Überblick ein:

Peter Bürger (Hg.):
Feyfhundert Muaren Hiemmelblo.
Südwestfälische Mundartgedichte über Begehren, Liebe und Herzensnot.
Schmallenberg: WOLL-Verlag 2021.
ISBN: 978-3-948496-39-5 (424 Seiten, Hardcover, Preis 19,90 Euro)
Überall im Handel erhältlich oder direkt beim Verlag:
https://www.woll-verlag.de/feyfhundert-muaren-hiemmelblo/

Die älteste Liebeslyrik des Sauerlandes bilden frühmittelniederdeutsche Übersetzungen zum biblischen „Lied der Lieder“ Salomons, verfasst um 1325 nach Christus in der eigentümlichen Sprache der Landschaft: „Komm in meinen Garten“ (cum in minen garden)! „Mit ihres Mundes Küssen soll sie mich küssen. / Denn: Deine Brüste sind besser als Wein!“ (Mit eres mundes cussene sal se mi cussen, / wante dine brusten sint beter deme wine). Ein unglaublicher Anfang mit Bibelversen aus einem erotischen „Klassiker“ der Weltliteratur, wie sie vor 700 Jahren im Hochsauerland vorgelesen wurden.

Mundart-Anthologie

Unsere Mundart-Anthologie erschließt für ein halbes Jahrtausend weitere Literaturzeugnisse über Begehren, Liebe und Herzensnot aus den Kreisgebieten Olpe, Hochsauerland, Märkisches Sauerland und Soest.

Quelle: Peter Bürger
Peter Bürger in der Kiefernstr. Publizist Jahrgang 1961- Fotograf (Copyright): Bernd Schaller, Düsseldorf

Texte der Reformationszeit markieren bereits gegensätzliche Tendenzen der gesamten Sammlung: Ein Schreiber zarter Verse ist krank vor Sehnsucht, seitdem sich am Haus frommer Frauen ein „liebes Fenster“ geöffnet hat. Der Soester Satiriker Daniel will hingegen in derben Reimen die angeblich sehr ausgeprägte Fleischeslust der Lutherischen verlästern.

„Auf Platt darfst du alles sagen!?“ Im Leutegut kommen – fern von jeder Prüderie – Tanzfreude, Liebeswerben und Sinnlichkeit zur Sprache. Die gelungensten Stücke wurden als Schlager wohl überall gesungen. Zur Schattenseite gehörten ein regelrechter „Krieg der Geschlechter“, Frauenverachtung, häusliche Gewalt und materielle Nöte der heiratswilligen „Behelpers“.

Liebesbedürftige sind wir alle

Seit dem 19. Jahrhundert ist für ein größeres Publikum der Beweis erbracht worden: Die südwestfälische Alltagssprache kann ein Mittel sein, Beglückung und Leiden der Liebe in dichterischer Form zu verarbeiten. Das Tragische gerät allerdings vorzugsweise zur komischen Sache. Sich selbst und andere auf die Schüppe zu nehmen, darauf will populäre plattdeutsche Dichtung nicht gerne verzichten.

Liebesbedürftige sind wir alle. Doch die Liebenden betrachten sich keineswegs als arm. Sie bewohnen ein Landgut, das nur Lyrikerinnen und Lyriker vermessen können: „Feyfhundert Muaren Hiemmelblo!“

Die Sammlung richtet sich auch an Neugierige ohne besondere plattdeutsche Kompetenzen. Zu den ausgewählten Gedichten von Friedrich Wilhelm Grimme und Christine Koch in zwei Abschnitten gibt es durchgehend Übersetzungshilfen.

Leseprobe

Leseprobe aus der Einleitung des Buches:
Die „Liebe“ in Gedichten von Christine Koch (1869-1951)

Für die Zeit der Weimarer Republik bilden zwei Mundartlyrikbände von Christine Koch (1869-1951) den Höhepunkt aller plattdeutschen Neuerscheinungen des Sauerlandes. Die ehemalige Lehrerin, Brachter Wirtsfrau und Bauerngattin stammte aus (Eslohe-)Herhagen. Zeitweilig schrieb man ihr aufgrund der niederdeutschen Literaturverdienste den pathetischen Ehrentitel „Mutter der Heimat“ zu. Doch sie hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg mit den eigenen Kindern kein Plattdeutsch mehr gesprochen. Die gewitzten „Frigge“-Verse im überlieferten plattdeutschen „Leutegut“ haben manche ihrer Dichtungen beflügelt und sorgen dafür, dass bei der Lektüre bisweilen die Lust zum Tanzen erwacht.

Quelle: Christine Koch-Mundartarchiv
Die sauerländische Mundartlyrikerin Christine Koch (1869-1951), hier als junge Lehrerin; Bild: Museum Eslohe“

Schließlich kommt es auch zum Durchbruch einer neuen Lyrik mit ernstem Ton. In Christine Kochs „Twiegespräk“ (Zwiegespräch) lassen die Liebenden „ein feines Verstehen von Seele zu Seele“ gehen:

Twäi sind Küningeskinger,

Dünket iäk nix geringer

In düʼr Nacht,

Lat en feyn Verstohn

Van Säile te Säile gohn,

Weert reyke in düʼr Nacht. 

(Zwei sind Königskinder,

Dünken sich nichts geringer

In dieser Nacht,

Lassen ein feines Verstehen

Von Seele zu Seele gehen,

Werden reich in dieser Nacht.)

Christine Koch (1869-1951)

Doch ist diese beglückende Erfahrung keineswegs das Selbstverständliche! Der Schmerz zwischenmenschlicher „Vergegnung“, das Leiden an der Sprachlosigkeit im Gefüge der Menschen und die Not des einsamen Unverstandenseins kommen in vielen Dichtungen zum Vorschein. Ausdrücklich heißt es in dem – in unserer Sammlung nicht aufgenommenen – Gedicht „Et giett en Lachen“ (Es gibt ein Lachen; Übersetzung): „Wie wenig doch einer vom anderen weiß, wie selten ein Herz, das dich versteht (…), und fremd geht einer am andern vorbei.“

Es gibt ein Lachen

Die Eheleute Christine und Wilhelm Koch galten als erprobte Heimatpatrioten, doch ein 1929 veröffentlichter Text zeugt von ihrem Leiden an der Enge der eigenen Lebenswelt (Übersetzung): „Mit dem Wasser zu wandern / Von einem Land zum andern / Wäre Herzensbegehr. / Uns hält die Scholle, / Und Alltagsgerolle / Lässt keinen hindurch. […] Unsere Welt ist zu klein“ (Unruihege Gäste).

Quelle: DampfLandLeute-Museum Eslohe
Das Ehepaar Christine und Wilhelm Koch in Schmallenberg-Bracht; Bild: Museum Eslohe

Christines Schwager Franz Joseph Koch (1875-1947) aus Schmallenberg-Bracht hat wohl kaum, wie spekuliert worden ist, seine plattdeutschen Textproduktionen freiwillig zugunsten der Schwägerin in der Schublade belassen. Durch eine Editionsarbeit des Museums in Holthausen können wir F. J. Kochs lyrische Begabung heute aber wirklich noch besser erkennen. Einige „Liebesgedichte“ sind seine besten Mundarttexte! (…)

Der bekannteste Mundartlyriker des märkischen Sauerlandes ist übrigens der Metallarbeiter Fritz Linde (1882-1935), geboren „zu Sankel Gemeinde Kierspe“ im Altkreis Altena. Er hat unter anderem überzeugende Gedichte über früheste und frühe Liebe verfasst, die unbedingt den Eindruck des Autobiographischen erwecken. Seine Verse über das Erwachen von Herzensregungen in Jugendjahren werden wohl auch die meisten Leserinnen und Leser zu einer persönlichen Zeitreise einladen (Übersetzung): „Am Ufer bei dem Dornenstrauch / Da haben wir zusammen gesessen – / Am Ufer bei dem Dornenstrauch – / Ich hab es noch nicht vergessen!“