Fünf Tage in der Geisterwelt – die Schieferstollen als Bunker

Schiefergeschichten

In einem Kinderwagen lag ein fünf Monate alter Säugling in einem feuchten Schieferstollen. Daneben saß eine blutverschmierte, junge Frau mit einem Neugeborenen im Arm. Die junge Frau hatte gerade entbunden, als eine Granate in das Bad Fredeburger Krankenhaus einschlug und sie sich ins Schieferbergwerk flüchten musste.

Der Säugling war der heutige Ortsheimatpfleger von Bad Fredeburg, Hubert Gierse, und die Frau eine nach Fredeburg Evakuierte mit ihrer gerade geborenen Tochter im Arm. 50 Jahre später suchte diese Tochter den Ort auf, an dem sie ihre ersten Lebenstage unter der Erde verbracht hat. Gemeinsam mit Hubert Gierse ging sie auf Spurensuche. „Die Familie konnte sich kaum vorstellen, wie man unter solchen Verhältnissen mehrere Tage ausharren konnte“, erinnert sich der Ortsheimatpfleger, „unvorstellbar ist jedoch erst die Situation gewesen, die sich in dem Schieferbergwerk abgespielt hat, wo meine Großtante in den Armen eines 9-jährigen Verwandten an Herzversagen gestorben ist.“

Eigene Erinnerungen an diese Tage hat Hubert Gierse nicht. Umso mehr sieht er es als seine Aufgabe als Ortsheimatpfleger an, Erinnerungen von Zeitzeugen zu sammeln und zu bewahren. Seit über 30 Jahren sammelt er nun schon Briefe, Tagebucheinträge, Berichte und mündliche Erzählungen aus jenen Tagen im Jahr 1945, die zu den dunkelsten der Sauerländer Geschichte zählen. Taucht man in diese inzwischen umfangreiche Sammlung von Erinnerungen ein, ergibt sich ein wirklich bedrückendes Bild:

Als der Krieg ins Sauerland kam

Ende März 1945 kam der Krieg endgültig im Schmallenberger Sauerland an. Die Truppen der Alliierten umzingelten das Ruhrgebiet. Als letzter Korridor in die ehemals wichtige Wirtschaftsregion an der Ruhr diente das unwegsame Sauerland. Die deutsche Wehrmacht leistete erbitterten Widerstand, obwohl es außer einem Trümmerfeld an der Ruhr nicht mehr viel zu verteidigen gab und die Alliierten versichert hatten, die Sauerländer Orte zu verschonen, wenn dort kein starker Widerstand geleistet würde. Tausende verzweifelte Menschen warteten auf ein Ende des Grauens. Bomben, Tieffliegerangriffe, Geschützfeuer und schließlich Panzer brachten dieses Grauen in die Sauerländer Dörfer. Menschen wurden bei der Feldarbeit von Tieffliegern erschossen, Häuser brannten, der Tod fiel vom Himmel – überraschend, unerwartet, in jeder Alltagssituation und zu jeder möglichen Zeit.

Die Stollen der Schieferbergwerke, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fast in jedem Dorf in die Sauerländer Berge getrieben wurden, bekamen plötzlich eine neue Bedeutung: Sie boten kurzfristig Schutz. Auch bereits aufgegebene Bergwerke wurden zu Bunkern. Mit wenigen Habseligkeiten retteten sich die Menschen unter die Erde. Dort war es klamm, nass und dunkel und die Belüftung war nicht auf die vielen Personen eingerichtet. Mit jeder Stunde im Stollen kroch die Kälte tiefer in die Glieder. Wasser tropfte von der Decke. Die Luft war stickig, der Sauerstoff knapp. Elektrisches Licht gab es nicht. Karbidlampen und Kerzen mussten gelöscht werden, um Sauerstoff zu sparen. Über den Köpfen donnerte es. Erschütterungen brachten Steine an der Decke ins Rutschen. Eines war allen klar: Wenn sie tatsächlich lebend in die Welt über Tage zurückkehren könnten, würde diese Welt eine völlig andere sein als die, die sie verlassen hatten. Würde das eigene Haus noch stehen? Würden Freunde und Verwandte in den Nachbardörfern noch da sein? Gäbe es noch eine Lebensgrundlage für die Zukunft?

Als die Front zu Ostern 1945 den Ort erreichte, war Bad Fredeburg voller Evakuierter aus dem Ruhrgebiet – geflüchtet in das vermeintlich sichere Sauerland. Den detailliertesten Bericht in Hubert Gierses Sammlung hat der damalige Fredeburger Dechant Paul Schmidt für das Pfarrarchiv verfasst. Er äußert eine Theorie, warum die deutschen Offiziere so wenig Rücksicht auf die Sicherheit der Bevölkerung genommen haben und stattdessen im Ort so erbitterte Kämpfen befahlen. Er vermutet, „dass Fredeburg so zähe verteidigt wäre, aus Hass gegen die Bevölkerung, weil sie sich der SA gegenüber immer ablehnend verhalten hätte“.

Aus den Zeitzeugenberichten lassen sich die Ereignisse rekonstruieren. Dechant Schmidt schreibt: „Am Ostermittwoch, (04.04.) abends gegen 8 1/4 Uhr eröffneten amerikanische Langrohrgeschütze, die auf dem Höhenzuge westlich vom Astenberge zwischen Langewiese und Albrechtsplatz aufgestellt waren, das Feuer auf Fredeburg. Ohne jede Warnung durch die Sirene schlugen plötzlich ca. 12 schwere Granaten in unsere Stadt ein.“ Die Fredeburger flüchteten in die Schieferstollen. Schmidt schreibt weiter: „In der Schiefergrube Magog haben … wohl 2.500 Menschen die Kampfzeit zugebracht. Bergleute der Gewerkschaft Magog hatten darin vorher eine elektrische Lichtleitung, die aber sofort am ersten Abend versagte, gelegt, die Gänge verbreitert und geebnet, durch Sprengungen die einzelnen Höhen miteinander verbunden, Holzbänke aufgeschlagen, eine Abortanlage hergestellt und Stroh ausgebreitet. Die Schiefergrube bot sicheren Schutz gegen Artillerie- und Fliegerbeschuß, so daß ein verwundeter Soldat einem nörgelnden Evakuierten den Mund stopfte mit den Worten: ‚In Düsseldorf würde mancher gern 1.000 RM zahlen für ein Plätzchen in einem solch sicheren Bunker.’“

R. Hermes versucht, ins rettende Bergwerk zu gelangen: „Ich wollte über den Kirchplatz gehen, hier lagen einige Tote … Da kam ein Oberleutnant auf mich zu und sagte: ‚Sie können hier nicht durch.‘ Ich sagte ihm: ‚Ich muß zu dem Bunker, meine Mutter wartet auf mich.‘ – ‚Das geht auf keinen Fall!‘, antwortete er … ‚Kommen Sie schnell!‘ Wir gingen schnell, denn es wurde wieder geschossen. Wir waren bei Fuchses Haus, da schlugen mehrere Granaten ein. Er sagte: ‚Schnell hier an die Mauer, die Hände über den Kopf!‘ (Das war die hohe Schiefermauer Fuchses gegenüber.) Zu dieser Zeit war die Granate eingeschlagen, von deren Splitter Elisabeth Frigge getroffen war!! … Als dann eine kleine Feuerpause eintrat, bin ich hinter Wulbecks den Weg zum Bunker gegangen. – Inzwischen war die Nachricht, dass es auf dem Kirchplatz mehrere Tote seien, im Bunker durchgekommen und alle glaubten, ich sei dabei. … Als ich dann doch heil und gesund ankam, weinte meine Mutter vor Freude.“

Um vorwärtszukommen, versuchten alle, die Pausen im Beschuss zu nutzen. Schwester M. Adelis Lingemann MSC schreibt: „Als die Schießerei nachließ, schickte mich meine Mutter mit dem Kinderwagen los. Ich bin gerannt wie nie in meinem Leben, besonders als ich die ersten Toten auf dem Kirchplatz liegen sah. Dann saßen wir Tag und Nacht in den Schieferstollen. … Nach 2-3 Tagen wurde der Sauerstoff knapp. Ein Streichholz ging fast nicht mehr an. … Die ersten Tage bemühten sich mein Vater und meine Schwester noch, Milch aus Heiminghausen herbeizuschaffen. … Erst als ein Militärfahrzeug zwischen Grobbeln und Grübeln Haus explodierte, blieben sie im Schieferstollen.“

Die aus Wuppertal evakuierte Doris Kaufmann schildert die Situation im Stollen so: „Wir saßen in einer Art Gang, nicht sehr weit vom Eingang entfernt, aber man konnte immer weiter in den Berg hineingehen. Ich meine mich an große Hallen, Seitenstollen und Gänge zu erinnern. Alles war in ein fahles Licht getaucht, welches die Carbidlampen verbreiteten. Dieser Carbidgeruch ist mir bis heute widerwärtig. In diesem Schieferstollen hielten sich sehr, sehr viele Menschen auf, alle deprimiert und voller Angst, gehüllt in Mäntel und Decken, Taschen mit etwas Habe neben oder vor sich. Es waren kleine Kinder dort, die weinten und alte Menschen, kranke Menschen und ich weiß, dass man hörte, es sei jemand gestorben. Auch Soldaten waren im Stollen, und immer wieder wurden Verwundete hereingebracht, stöhnend und manchmal vor Schmerzen schreiend. Es wurde gefragt, ob Schnaps da sei, um Verwundete, die behandelt werden mussten, damit zu betäuben. Es wurde sogar gesagt, es müssten Notamputationen durchgeführt werden. Es war eine Geisterwelt! Dann wurde immer wieder gefragt, ob Leute da wären, die melken könnten und bereit seien, hinauszugehen und das Vieh zu versorgen. Katastrophal waren die hygienischen Verhältnisse. Ein Seitenstollen – auch dort trübes Licht von Carbidlampen – war zur Verrichtung menschlicher Bedürfnisse bestimmt worden. Jeder musste dorthin, Männer, Frauen, Kinder, bei so vielen Menschen oftmals gleichzeitig. Es war einfach scheußlich. Eigentlich sollte niemand den Stollen verlassen. Aber als der Proviant bei uns zu Ende gegangen war, rannte meine sehr impulsive Mutter während einer Beschusspause einfach los, um Nahrungsmittel aus der Wohnung zu holen. Mein Vater hinterher, und wir Kinder blieben voller Angst
zurück. Kaum waren die Eltern weg, da begann der Artilleriebeschuss von neuem, und es erschien uns wie eine Ewigkeit, bis sie wiederkamen. Sie erzählten, dass die Ortsmitte ein regelrechtes Schlachtfeld sei, durchzogen von Einschusslöchern und Schützengräben. In einem solchen Graben hatten sie zwischen den Soldaten flach auf dem Boden gelegen und die nächste Feuerpause abwarten müssen.“

Tage vergingen unter ständigem Beschuss, hinzu kamen Luftangriffe. Dechant Schmidt beschreibt, wie sich die Situation zuspitzte: „Vor der Toilette standen die Leute von frühester Morgenstunde an Schlange, wo sie nicht selten eine Stunde und länger warten mußten. Wegen der schlechten Luft hatte jeder das Bedürfnis, wenigsten ab und zu in die Nähe des Einganges zu kommen. Hier stauten sich die Menschen; aber der Eingang mußte frei bleiben, damit frische Luft einströmte. … Der Versorgungsmangel mit Lebensmitteln wurde so ernst, daß Ortsgruppenleiter Jos. Schneider die Männer aufforderte, für einige Tage vollständig auf Nahrung zu verzichten. … Manche bekamen die sogenannte Bunkerkrankheit und redeten irre, andere wurden ohnmächtig. … Die Not wurde so groß, daß sich am Samstag, (07.04.) morgens vor 9 Uhr, Fräulein Dr. Blijdenstein und Fräulein Lutz unter Lebensgefahr zum Amtshause begaben und dem Stadtkommandanten die dringende Bitte vortrugen, die Stadt an die Amerikaner zu übergeben oder wenigstens eine Kampfpause eintreten zu lassen, damit … den Säuglingen Milch aus den Häusern geholt und das Vieh versorgt werden könne; die Zustände im Bunker seien unerträglich. … Der Stadtkommandant Hertrampf wies die beiden dann an den Kampfkommandanten Major Wähle. Dieser lehnte brutal unter gemeinen Ausdrücken alles ab.“

Unter deutschem Beschuss

Am 08.04. war Fredeburg in amerikanischer Hand, doch die Menschen durften die Stollen trotzdem nicht verlassen. Jetzt stand die Stadt unter deutschem Beschuss. Im Bericht von Dechant Schmidt heißt es: „Der englische Sender warnte weiter westlich gelegene Städte mit dem Aufruf: ‚Stellt den unsinnigen Kampf ein, sonst wird es euch ergehen wie dem Städtchen Fredeburg, das zu 75 Prozent vernichtet ist!‘ … Am Montag, dem 09.04., einem sonnigen Frühlingstag, durften wir aus dem Stollen auf die Straße treten. Wie wohl tat einem die frische Luft und das Tageslicht! Mein erster Blick galt der Kirche. Zu meiner großen Freude stand sie noch, wenn auch übel zugerichtet. Auch mußte ich sehen, daß, womit ich nicht gerechnet hatte, das Pfarrhaus noch erhalten geblieben war. Doch das Ohl und der Hügel boten ein Bild des Grauens. Überall rauchende Trümmerhaufen. Ich ging den Apentroperweg hinauf und konnte feststellen, daß das Krankenhaus und die Vikarie nicht zerstört waren, aber sie zeigten große Schäden, besonders das Krankenhaus, das mehrere Volltreffer erhalten hatte.“

Ein anderer Fredeburger Augenzeuge fasst kurz und prägnant zusammen: „Doch was war aus unserem schönen kleinen Städtchen geworden, in dem bis zum Osterfest noch keine Scheibe durch den Krieg zerstört worden war. Die toten Soldaten lagen noch auf der Straße, ebenso viel Vieh, dazu die Ruinen der zerstörten Häuser. Ein Bild der Verwüstung. Der Krieg hatte uns nur kurz berührt, aber gründliche Arbeit geleistet.