Früher war alles besser? Nä!

Quelle: Rolf Trapmann

Das WOLL-Jubiläumsinterview mit Michael Martin

Elf von den zwölf Jahren, die es den WOLL-Verlag mittlerweile gibt, ist der gebürtige Werdohler Michael Martin als erfolgreicher Autor schon kreativ mit bei uns an Bord. Im Herbst erscheint mit „Sauerländer. Heißer geht’s nicht.“ schon sein elftes WOLL-Buch. Begonnen hat damals alles mit „Rock ’n’ Roll war woanders. Eine Jugend in der Sauerländer Schlagerhölle.“, dessen Geschichten im märkischen Sauerland der 70er-Jahren spielen. Dort war früher, so der Autor, nicht viel los und der Arsch der Welt schon ziemlich gut zu sehen. Anlässlich unseres Jubiläums waren wir natürlich neugierig, ob er das heute immer noch so sieht und warum er nach 40 Jahren ‚woanders‘ 2020 ins Sauerland zurückgekehrt ist.

Wir treffen uns mit ihm in seiner alten Stammkneipe Alt Werdohl, in der er mit „Rock’n’Roll war woanders.“ eine seiner ersten Lesungen bestritt, und haben ihn einfach mal gefragt.

WOLL: Du bist Anfang der 80er aus Werdohl nach Berlin gezogen, hast die ganze Welt bereist, 20 Jahre lang in Südengland am Meer gewohnt und lebst nun wieder im Sauerland. Was hat sich hier Deiner Meinung nach in den letzten Jahrzehnten verändert? Fühlt sich die Heimat immer noch so an wie früher?
Michael Martin:
Nein, dazu hat sie sich zu stark verändert. Die Menschen und das Pils sind zwar nach wie vor genau nach meinem Geschmack, aber fast alles andere ist heute sichtbar und spürbar anders als früher. Wobei ich damit nicht sagen will, dass früher alles besser war, ganz im Gegenteil. Nicht nur der Rock’n‘Roll war schließlich damals woanders als im nebelgrauen Sauerland.

WOLL: Also gibt es für Dich keine ‚guten alten Zeiten‘, von denen die älteren Einheimischen immer wieder schwärmen?
Michael Martin:
Natürlich gab es die. Aber in 20 Jahren wird man auch auf die aktuelle Dekade zurückblicken und sie romantisch verbrämen. Die sogenannten guten Zeiten erlebt man meiner Meinung nach nicht bewusst, sondern sie werden erst nachträglich als gut empfunden. Isso. Klar war es super, dass es in Werdohl früher einen florierenden Einzelhandel mit unzähligen Geschäften gab, fünfzig Kneipen und reichlich durstigen Gästen, die in der brummenden Stahlindustrie genug Kohle verdienten, um sich eine Zeit lang keine Sorgen machen zu müssen. Aber parallel dazu gab es eben auch viele Schattenseiten.

WOLL: Hast du ein paar konkrete Beispiele?
Michael Martin:
Lenne, Verse und besonders die Zoppe, der alte Lennearm entlang der Altenaer Straße, waren vollkommen verdreckt und stanken oft zum Himmel, da die Industrieabwässer direkt und ungefiltert in die Flüsse geleitet wurden. Als die Stahlindustrie dann während der Ölkrise selber den Bach runterging und immer mehr Menschen arbeitslos wurden, sah die Zukunft mit einem Mal alles andere als rosig aus. Nicht umsonst gab es zu der Zeit in Werdohl prozentual mehr Drogenabhängige als in Berlin. Und als ich 1978 Abitur machte, titelte das Altenaer Kreisblatt „Abiturientia 78 steht vor einer schwarzen Zukunft“. Das entpuppte sich später natürlich als absoluter Mumpitz, wir haben nämlich trotzdem alle unser Ding machen können und sogar noch Spaß dabei gehabt. Man sollte eben nicht alles für bare Münze nehmen, was in der Zeitung steht. Das WOLL-Magazin natürlich ausgenommen! Darüber hinaus gab es aber auch Schattenseiten, die ich im Nachhinein eher lustig finde.

WOLL: Wir sind gespannt …
Michael Martin:
Das ewige Warten und die Jahre der dabei verplemperten Zeit werde ich nie vergessen. Beim Herrenfriseur stundenlang im dichten Zigarettenqualm auf den Pottschnitt warten, beim Zahnarzt den kompletten Vormittag auf eine Amalgamplombe, samstags beim Metzger am Ende einer endlosen Schlange auf labberige Schweineschnitzel, die überwiegend aus Wasser und Wachstumshormonen bestanden.

Quelle: privat

WOLL: Das hört sich ja nicht besonders lecker an. Was hat sich denn seitdem Deiner Meinung nach positiv im Sauerland verändert?
Michael Martin:
Der Rock’n’Roll ist endlich angekommen. Du musst nicht endlos am Mittelwellenradio kurbeln, um irgendwo geile Mucke zu hören. YouTube, Spotify, Internetradio – herrlich. Dank Internet weiß jeder Sauerländer zeitgleich zum gleichaltrigen New Yorker oder Berliner, was gerade musikalisch und kulturell angesagt ist. Dadurch verschwinden Ahnungslosigkeit und Provinznuckeltum langsam, zwei Stigmata, an denen man Sauerländer früher schnell erkannte. Vor allem mich.

Das Essen ist besser geworden, man bekommt überall regionale Produkte und in den Restaurants gibt es nicht nur Schnitzel oder Schnitzel, sondern hundert leckere Alternativen. Und meine lieben Sauerländer Mitmenschen haben in puncto Weltoffenheit und Freundlichkeit einen großen Sprung nach vorn gemacht. Die Täler zwischen den tausend Bergen sind längst nicht so tief, wie früher und Du bist auch als Fremder, sogar als Werdohler, überall im Sauerland willkommen.

WOLL: Eine Frage im Auftrag der Romantiker unter unseren Lesern: Gute alte Zeiten hast Du aber auch in der Heimat erlebt, oder?
Michael Martin:
Natürlich. Auch wenn unsere Erinnerungen manches schöner machen, als es wirklich war, gibt es viele Dinge, bei denen mir noch heute das Herz aufgeht. Der plattdeutsche Singsang aus der Wohnstube meiner Omma, die Dicken Sauerländer, direkt aus der Dose verspeist während unserer Wanderungen mit den Eltern, die Spezialtorte von Café Köster, der Geruch des Waldes, wenn man am Rand der Sorpe auf das Ende des Gewitterschauers wartet, Papas Geheimecken für Steinpilze und Pfifferlinge. Herrlich.

WOLL: Und was ist mit dem Pils, das Du gerade trinkst?
Michael Martin:
(lacht) Das war im Sauerland schon immer unschlagbar gut. Besonders bei Pöngse im Alt Werdohl, woll.