Fingerhut

Das neue Markenzeichen des Sauerlandes

„Baden im Fingerhutmeer“ – das ist für manche Gäste inzwischen ein Grund für einen Besuch im Sauerland. Während Einheimische sich gründlich wundern, angesichts der neuen Begeisterung für eine Pflanze, die sie seit der Kindheit kennen, bringt ein Gast aus den Niederlanden seine Sicht der Dinge auf den Punkt: „Nirgends sonst in Europa habe ich je so große, intensive Fingerhutflächen gesehen wie jetzt im Sauerland. Wir fahren seit Jahren zur Narzissenblüte in die Eifel und neuerdings auch zur Fingerhutblüte ins Sauerland.“ Ende Juni und Anfang Juli leuchten tatsächlich viele Sauerländer Berge im Purpur-Violett der Digitalis purpurea (so der lateinische Name der hüfthohen Blütenpflanze). Betroffen sind vor allem jene Flächen, auf denen bis vor wenigen Jahren dichte Fichtenwälder standen, die der Borkenkäferplage zum Opfer gefallen sind. Solche Flächen gibt es in anderen Mittelgebirgen auch. Warum erobert der Fingerhut diese Flächen im Sauerland anscheinend viel stärker für sich als in anderen Teilen Europas?

Fichten, Schiefer und das Licht

Der Südwestfalenranger Ralf Schmidt erklärt auf Nachfrage des WOLL-Magazins das Zusammenspiel jener Faktoren, die das Phänomen Fingerhut begünstigen: „Verantwortlich für den natürlichen Pflanzenbewuchs sind immer vor allem die Bodenverhältnisse, der Lichteinfall und die Konkurrenz durch andere Pflanzen. Die Borkenkäferflächen sind für den Fingerhut einfach ideal.“ Vor allem dort, wo die Fichten sehr eng stehen, sind die Böden des Sauerlandes sauer und vegetationsarm. Der Fingerhut wächst ursprünglich neben anderen Kräutern an den Waldrändern. Während viele Pflanzensamen gerne von Vögeln und Mäusen gefressen werden, verteilt der Wind die winzigen Fingerhutsamen im Wald, wo sie viele Jahre unbehelligt im Waldboden überdauern können. Sie enthalten außerdem Digitonin, das eine Auflösung der roten Blutkörperchen bewirkt, die Hämolyse. Die Waldtiere sind klug genug, das nicht zu fressen. Als dann die Sauerländer Waldbauern die von den Borkenkäfern getöteten Fichten großflächig entfernten, waren es die Samen des Fingerhutes, die von der plötzlichen Menge an Sonnenlicht auf dem Waldboden profitierten. Unbehelligt von konkurrierenden Kräutern konnten sie sofort keimen und sich perfekt entfalten. Der Boden selbst tut sein übriges. Wenn Fichten auf Grauwacke oder Schieferböden stehen, wird der Waldboden sehr sauer. Der Fingerhut ist eine der wenigen heimischen Pflanzen, die mit der Säure im Boden gut zurechtkommen. Dort, wo die Böden kalkhaltiger und dadurch weniger sauer sind – zum Beispiel auf manchen Flächen zwischen Warstein und Brilon – hat der Fingerhut viel Konkurrenz. Deshalb färben sich dort die Berghänge nicht so einheitlich rot-violett. Vielmehr entwickelt sich auf ihnen eine bunte Artenvielfalt. Ähnliches gilt auf den Basaltböden des Westerwaldes oder der Eifel. Verantwortlich für das Phänomen Fingerhut im Sauerland ist also das Zusammenspiel von ehemaligen Fichtenforsten, Schieferböden und dem plötzlichen, starken Sonnenlichteinfall.

Vergängliche Pracht

Die neue Attraktion des Sauerlandes ist allerdings nicht von unbegrenzter Dauer. Wenn die Fichten auf einer Fläche komplett entfernt werden, der Waldbauer die Fläche nicht mulcht und nicht sofort neu bepflanzt, läuft die natürliche Entwicklung immer gleich ab: Im ersten Jahr wird die Fläche noch von den Überbleibseln der Holzernte dominiert: Fichtenäste, Rindenstücke, Baumstümpfe. Dazwischen entwickeln sich schon unauffällig die Fingerhutpflanzen. Im ersten Jahr bleibt die Pflanze in Bodennähe und bildet noch keine Blüte. Im zweiten Jahr wachsen die Fingerhüte dann zur vollen Größe und lassen die Überreste der Fichten unter einem Farbenmeer verschwinden. Der Eindruck eines „Fingerhutmeers“ entsteht. Im dritten Jahr kommen oft weitere Pflanzen dazu, die auch mit dem relativ sauren Boden zurechtkommen: Das Weidenröschen – ebenfalls in Purpur-Violett – und das gelbe Fuchskreuzkraut nutzen neben dem Fingerhut leicht zeitversetzt die gleichen Flächen. Im vierten und fünften Jahr erobern weitere Pflanzen die freigewordenen Flächen und der Fingerhutanteil sinkt. Spätestens im sechsten Jahr nehmen Ginster, Birken, junge Fichten und Ebereschen dem Fingerhut die Chance, der Fläche seinen Stempel aufzudrücken. Wenn die letzten borkenkäfergeschädigten Flächen abgeräumt sind, kann man sich also vier bis fünf Jahre an der Farbenpracht des Fingerhutes erfreuen.

Fingerhut verdient Respekt

Zwei Hinweise für Wanderer hat Ranger Ralf noch: „Bitte keine Waldblumen abschneiden oder ausgraben, um sie mit nach Hause zu nehmen. Ein im Wald ausgegrabener Fingerhut geht im Garten ohnehin nicht an. Die Pflanzen sind zweijährig. Nach der Blüte sterben sie ab.“ Und zweitens sei Fingerhut giftig. Die ausgewachsene Pflanze enthalte Digitalis, das in kleinen Mengen als Herzmedikament in der Medizin eingesetzt werde. In etwas größerer Menge sei es giftig. Nicht nur seiner Giftigkeit wegen verdiene der Fingerhut Respekt. Der Respekt gebühre grundsätzlich allen Pflanzen und Tieren des Waldes. „Lasst sie einfach dort, wo sie zu Hause sind“, bittet Ranger Ralf, „im Wald sind sie immer am schönsten.“