Feyfhundert Muaren Hiemmelblo

Gedichte und Lieder aus sieben Jahrhunderten

Die „Liebesgedichte“ Erich Frieds sind einer der meistverbreiteten deutschsprachigen Lyrikbände und jedes Jahr erscheinen neue „Gedichte über Liebe“ oder Bücher ähnlichen Titels als Auswahl aus dem Werk bekannter Lyrikerinnen und Lyriker. Angesichts dieses hohen Ansehens von Liebesgedichten dürfte es ein vielversprechender Ansatz sein, auch das Interesse an Mundartgedichten durch eine Textsammlung zu wecken, die unterschiedliche Aspekte der Liebe in den Mittelpunkt stellt. Peter Bürger – profunder Kenner, Herausgeber und Erforscher der sauerländischen und allgemeiner auch der westfälischen Dialektliteratur – tut dies für Texte aus dem Sauerland. Sein Band „Feyfhundert Muaren Hiemmelblo“ versammelt Gedichte und Lieder aus sieben Jahrhunderten und lädt zu einer Entdeckungsreise in die Literatur dieses (größtenteils ehemaligen) niederdeutschen Sprachraums ein.

Dabei zeigt der umfangreiche, auch optisch ansprechende Sammelband den ganzen Reichtum der sauerländischen Dialektliteratur. Nicht nur bekannte Autorinnen und Autoren wie Friedrich Wilhelm Grimme, Christine Koch oder Siegfried Kessemeier sind vertreten. Gerade die unbekannteren Autoren und Texte bieten Überraschungen. Sei es der inhaltlich recht freie und körperlich direkte Umgang mit dem Hohelied, dessen Vers „Süßer als Wein ist deine Liebe“ in einer sauerländischen Übersetzung aus dem 14. Jahrhundert zu „wante dime brusten sind beter deme wine“ wird. Sei es das rührende Alters- und Klagegedicht „Meiner leiwen Frau“ des Iserlohner Industriehandwerkers Heinrich Turk, das von abgekühlter Liebe, gescheiterten Hoffnungen und vom Abschied, den der Tod bereitet, handelt: „Niu es et Hiärwst.“ Oder die Goethekritik Horst Ludwigsens, dessen Gedicht „Goethe un Christiane“ die Frauenfeindlichkeit des frühen 19. Jahrhunderts und auch die Goethes selbst anhand der Bestattungsstätten von „Goethe / in diär Fürstengruft“ und seiner Ehefrau „Christiane / im Rîgengraff“ anschaulich macht. „Goethe, de Dichter, / Goethe, de Mensch. / Twäiërlei Maote.“

Natürlich ist nicht jeder Text gelungen und es findet sich einiges, was konventionell oder mittelmäßig ist. Aber Bürger geht es gar nicht um eine Präsentation lediglich des Höhenkamms der sauerländischen Dialektliteratur. Sein Ziel ist eher, anhand eines bestimmten Themas einen Überblick darüber zu geben, was an Literatur vorhanden ist und was diese Texte über die Lebenswirklichkeit der Platt sprechenden Bevölkerung aussagen. Dafür ist es von besonderem Wert, dass die Sammlung nicht nur gedruckt erschienene Mundartlyrik enthält, die im 19. Jahrhundert größtenteils von Angehörigen des Bürgertums oder sozialen Aufsteigern verfasst wurde, sondern auch Texte, die ohne Nennung von Autorennamen mündlich in der Bevölkerung zirkulierten. Bürger nennt diese Texte „Leutegut“, um zu zeigen, dass hier kein ominöses Volkskollektiv und keine Volksseele am Werk waren, sondern immer einzelne Menschen in spezifischen sozialen Situationen. Das kenntnisreiche Vorwort Bürgers erhellt die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge der Texte und ermöglicht so erst eine wirklich lohnende Lektüre auch unverständlicher, mittelmäßiger oder inhaltlich abstoßender Texte, beispielsweise einiger Ehestandsklagen, die Bürger in seiner Einleitung als Beispiele „ziemlich unverhohlener Frauenfeindlichkeit“ anführt. Da Bürger die materielle Lage der einfachen Leute nicht beschönigt und die Bösartigkeit einiger Texte nicht verschweigt, zeichnet die Sammlung ein klareres Bild der sauerländischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, als ein Höhenkammansatz oder das Aussortieren problematischer Gedichte es ermöglicht hätte.

Gelegentlich fällt die Lektüre der Texte allerdings schwerer, als es nötig gewesen wäre. Zwar werden die Gedichte teilweise in Gänze übersetzt, teilweise gibt es zumindest Vokabelhilfen, doch oft fehlt beides. Leserinnen und Leser mit guten Niederdeutschkenntnissen dürfte das kaum Probleme bereiten, ihnen entgehen höchstens einige inhaltliche Feinheiten. Für Menschen, die sehr wenig oder gar kein Platt können, ist die Sammlung jedoch weniger geeignet. Die durchgängige Beigabe von Worterklärungen wäre in jedem Fall wünschenswert gewesen.

Doch auch wer nicht alles versteht, kann sich zumindest über den Sprachklang freuen. Dieser
hat seine ganz eigene Schönheit. Als Beispiel hierfür sei der Anfang des Gedichts „Wat de Schwuatdrossel singt“ von Johann Schulte angeführt: „Froijohr, Froijohr, Froijohr! / Fuin, fuin, wat fuin! / Bo mag niu wual – piwitt, witt, witt – / muin Graitken suin? / Hijä, Hijä – me suiht et nit. / Wuit, wuit – wuit kann’t nit suin.“

Dieses nachgelassene Gedicht eines weitgehend unbekannten, 1944 gestorbenen Mescheders erweist sich in seiner Freude an Sprachklang und -experiment als Verwandter von Klaus Groths „Aanten int Water“. So wie Schultes Gedichte sind viele andere Texte der Sammlung die Mühe, die die Einarbeitung in die Sauerländer Plattvarianten manchmal bereiten kann, allemal wert.

Quelle: Peter Bürger

Peter Bürger (Hg.): Feyfhundert Muaren Hiemmelblo.
Südwestfälische Mundartgedichte über Begehren, Liebe und Herzensnot.
Schmallenberg: WOLL Verlag • Hermann J. Hoffe 2021. 424 Seiten • ISBN 978-3-948496-39-5. Hier geht es zur Verlagsseite!

Erstdruck des Textes von Nikos Saul in: Quickborn. Zeitschrift für plattdeutsche Sprache und Literatur. 112. Jahrgang (2022), Heft Peter Bürger 1, S. 70–72.