Fenster zur Erdgeschichte

Das Ostentroper Gotteshaus eröffnet Einblicke in die Urzeit

Ehrfurcht überkommt mich jedes Mal, wenn ich an den turmhohen Wänden meiner Heimatkirche entlang zum Himmel emporblicke. Einerseits gilt mein Respekt der enormen Kraftanstrengung, die die Arbeiter Ende der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts unternahmen, um die teils metergroßen Kalksteinbrocken aus dem talabwärts liegenden Steinbruch zu hauen, mit Pferde- und Ochsenkarren talaufwärts zu ziehen, dort passend zu schlagen und schließlich als stabiles Gefüge zum massiven Gotteshaus der St. Lucia-Kirche aufzutürmen. Andererseits sind es die Steine selbst, die mich immer wieder staunen lassen. Ihr enormes Alter und die für menschliche Maßstäbe unendlich langen Zeiträume, in denen sie entstanden sind, finde ich genauso spannend wie die Zeugen vorzeitlichen Lebens, die sich in ihnen erhalten haben.

Denn wer ahnt schon, dass wir unsere Existenzen im Sauerland größtenteils auf uraltem Meeresboden aufgebaut haben, von dem wiederum beträchtliche Anteile auf gut 400 Millionen Jahre alte, im Zeitalter des Devon entstandene Korallenriffe entfallen? Eines dieser uralten Korallenriffe ist heute die „Attendorn-Elsper Doppelmulde“, ein Überrest eines vorzeitlichen Atolls. Stehe ich unter der Kirche, kommt es mir unglaublich vor, dass diese Steine einst aus kalkigen Außenskeletten von Korallen gebildet wurden, die lange vor den ersten Dinosauriern existierten. Das nämlich lässt nur einen logischen Rückschluss zu: In meiner Heimat sah es einst aus wie in der heutigen Südsee! Und tatsächlich: Schaut man sich die Steine aus nächster Nähe an (und lässt dabei außer Acht, wie lächerlich das von außen vielleicht aussehen mag), drängen sich die Zeugen vorzeitlichen Meereslebens geradezu auf! Es wimmelt von mysteriösen Kalkschalen, Korallenbechern, Bruchstücken von Armfüßern und Seelilien, unter die sich selten scheinbar sogar ein Trilobit mischt, ein Vorfahre der heutigen Spinnen und Insekten. Manchmal habe ich gar den Eindruck, ein schneckenähnlicher Ammonit huscht vorbei!Während die Seelilien – Tiere, keine Pflanzen – am Boden verankert im nährstoffreichen Wasser mit ihren breiten Kelchen das Wasser filterten, schlängelten sich Knochenfische durch die unterseeische Landschaft. Die Korallen durchsiebten einige hundert Meter weiter oben ebenfalls die Sauerländer Südsee und schieden dabei den Kalk aus, auf dem wiederum die nachfolgenden Generationen Halt fanden. So schichtete sich der Kalk zu massiven Wänden. Was damals die Natur in Jahrmillionen gelang, schafften die Ostentroper aus ebendiesen Steinen mit purer Muskelkraft, einfachen Gerüsten und Kränen. Die Sonne brannte hinab auf das noch kaum tierisch belebte Land und den Meeresspiegel. Während sich im nach der südenglischen Landschaft benannten Zeitalter die ersten Tiere mühsam an Land wagten, tobte auch im Sauerland knapp unter dem Meeresboden ein anstrengender Überlebenskampf. Er wird für die Beteiligten ebenso mühsam gewesen sein wie für die vom Krieg gebeutelten Menschen, die viele Millionen Jahre später aus den massiven Findlingen ihre eigene Ode an die Schöpfung erbauten.

Zufällig fiel mir dieser Tage wieder das Bändchen des deutschen Geologen Dr. Kurd von Bülow in die Hände. Es ist aus 1943 und heißt „Erdgeschichte daheim“. Für große geologische Entdeckungen braucht der naturwissenschaftlich interessierte Mensch nach Ansicht des Herrn von Bülow nicht unbedingt ausufernde, weite Exkursionen. Gute Einblicke in die Geologie warten oft direkt vor der eigenen Haustür. So kann ich mit großer Freude feststellen, dass der Kellersockel meines eigenen Wohnhauses demselben Steinbruch entstammt wie das Material, aus dem die fleißigen Ahnen vor mehr als 70 Jahren die ungewöhnliche St. Lucia-Kirche in Ostentrop erbauten.Der nordamerikanische Franziskanermönch Richard Rohr hat einmal gesagt, die Schöpfung sei die erste Bibel. Wer sich für diese Interpretation der Wirklichkeit entscheidet – man nennt sie „Glauben“ – wird doppelt belohnt. Dann ist die Tatsache, dass das Kirchengebäude selbst irgendwann genauso vergehen wird wie das Atoll der „Sauerland-Südsee“ – Frostsprengung, saurer Regen und Autoabgase nagen schon jetzt sichtbar am Gemäuer – kein Schock, sondern Hinweis auf einen viel, viel größeren Zyklus, den ich, der am Fuße der gewaltigen Kirche nach Lebensspuren sucht, höchstens erahnen kann. Und so kann Ehrfurcht letztlich sogar trösten.