Feinfühlig und naturverbunden

Einsiedler Joachim Wrede fürchtet Industrialisierung unserer Landschaft

Kapuzinerpater Joachim Wrede wohnt seit 2014 als Einsiedler im alten Pfarrhaus in Schliprüthen (Finnentrop) an der Grenze zum Hochsauerlandkreis. Er lebt zurückgezogen im Einklang mit der Natur, ohne – wie man denken könnte – menschenscheu zu sein. Jeder, der hier etwas mit der Kirche zu tun hat, kennt ihn. WOLL hat mit ihm über seine persönliche Geschichte, seine Sicht auf das Leben, die Natur und seine kritische Haltung gegenüber der Windkraft gesprochen.

WOLL: Pater Wrede, Sie haben eine interessante Lebensgeschichte. Würden Sie diese für uns zusammenfassen?
Joachim Wrede:
Geboren bin ich 1954 in Warstein. Meine Eltern hatten eine Metzgerei. Nach Abitur, Eintritt in den Orden und Priesterweihe 1983 wurde ich Kaplan in einer Pfarrei in Mainz, die wir Kapuziner betreuten. Schon bald eröffnete sich mir die Möglichkeit, zusammen mit einigen Mitbrüdern in eine indigene Region Südmexikos zu gehen. Die Zeit dort prägte mich sehr. Ich durfte eine religiös und menschlich tiefe Lebensweise im Einklang mit der Natur erleben. 1999, nach meiner Rückkehr nach Deutschland, fragte ich mich: Worauf willst du in Zukunft deinen Schwerpunkt legen, in der Pastoral und in deinem Ordensleben? Meine Antwort war eindeutig: auf die Kontemplation – die Suche und das Gehen in religiöse Innenerfahrung. Heute oft als Meditation bezeichnet. Leben auf der Überholspur in unserer westlichen Welt geht so nicht weiter. Wir zerstören die Natur und damit unsere Lebensgrundlage. Ich wollte da nicht mitmachen und ganz im Sinne meines Ordensgründers Franz von Assisi andere Wege finden: Leben im Einklang mit Gott, der Seele und der Natur. Nach Aufenthalten in Klöstern in Südhessen und Baden eröffnete sich mir 2012 die Möglichkeit, als Eremit in die seit 150 Jahren bestehende Einsiedelei Klus Eddessen/Borgentreich zu gehen. Leider konnte ich dort nicht bleiben und wechselte nach einer Übergangszeit nach Schliprüthen, wo ich heute lebe.

WOLL: Warum sind Sie nicht in Klus Eddessen geblieben und nach Schliprüthen gezogen?
Joachim Wrede:
Nach einigen Wochen Aufenthalt bekam ich in Klus Eddessen gesundheitliche Probleme: Nachts bekam ich Beklemmungsgefühle und einen schwankenden Gang. Druck an den Schläfen deutete auf einen beginnenden Tinnitus hin. Ich zog neben diversen Medizinern einen bekannten Naturwissenschaftler zu Rate. Dieser sagte mir, die Symptome seien typisch für infraschallsensitive Menschen, die in der Nähe von Windrädern wohnen würden. „Nein, daran werden Sie sich nicht gewöhnen.“ Zur Erklärung: In einem Kilometer Entfernung zur Klause stehen sieben Windräder. Eigentlich hatte ich mich dort wohlgefühlt. Der Ort war ideal für mein Vorhaben. Es blieb keine andere Möglichkeit, als eine Zeitlang in einem unserer Klöster zwischenzuparken. Erneut auf der Suche, traf ich auf das alte Pfarrhaus in Schliprüthen. Als Sauerländer und wegen der Nähe zu Kloster Brunnen, einer 1834 aufgelösten Niederlassung unseres Ordens, war mir der Ort sympathisch.

WOLL: Sie bezeichnen sich als kontemplativ-eremitischen Kapuziner. Was bedeutet das?
Joachim Wrede:
Kapuziner sind ein Reformzweig innerhalb der großen Ordensfamilie, die auf Franz von Assisi zurückgeht. Die ersten Brüder bezeichneten sich als „Minderbruder vom eremitischen Leben“. Kontemplation und Leben in Einfachheit (Armut) sind unsere Kernanliegen, die zu jeder Zeit und von jedem einzelnen neu mit Leben gefüllt werden müssen. Die Kunst des inneren Gebetes (Kontemplation genannt) ist im Westen in Vergessenheit geraten, wird aber zusehends, in Kontakt mit außereuropäischen Religionen, wiederentdeckt. Unsere hastige Welt hat Ruhe, Stille, einen zentrierten Lebensstil mehr als nötig. Das ist mir ein besonderes Anliegen – so führte mein Weg ins Einsiedlerdasein und zur Kontemplation.

WOLL: Sie erleben mit anderen auch Kontemplation als Gruppe. Warum und wie funktioniert das?
Joachim Wrede:
Weil es sich für mich so gut und richtig anfühlt, möchte ich den Einstieg in das Erfahren von Spiritualität und Religion von innen heraus an meine Mitmenschen weitergeben. Deshalb betreue ich regelmäßig Gruppen in Warstein, Dieburg und hier in Schliprüthen. Gott lebt in uns und in allem, das kann man spüren. Wir müssen die Innenerfahrung nur zulassen, die Ich-Aktivitäten zur Ruhe kommen lassen und in ganzheitliches Spüren hineingehen. Der von mir geschätzte einfache, schnörkellose Weg, den Zen vorschlägt, geht über die Beobachtung bewussten Atmens. Ein Wort (Mantra) kann dazukommen. Alles soll dazu verhelfen, diese Ich-Aktivitäten wie eine Welle am Ufer des Strandes langsam auslaufen zu lassen. In der alten christlichen Tradition wird dieses Tun zuweilen Ruminatio/Wiederkäuen genannt. Von asiatischen Religionen kennt man die Silben Mu und OM. Das Praktizieren der Übung könnte dem spirituell verarmten Westen zu menschlicher und religiöser Lebendigkeit zurück verhelfen. Ich befürchte, dass Infraschall, der zu den anderen Wellen und Schwingungen, die die Technik der letzten Jahrzehnte bereits geschaffen hat, hinzukommt, es immer schwerer machen, in menschliche, spirituelle Tiefe hineinzukommen.

WOLL: Was ist Ihre Konsequenz, wenn demnächst auch im Finnentroper oder angrenzenden Esloher Sauerland Windräder stehen?
Joachim Wrede:
Ich habe Hoffnung, dass wir zur Vernunft kommen. Zurzeit werden 3,5 Prozent des Energiebedarfs von Windenergie abgedeckt. Für 35 Prozent Windkraftanteil am Energiemix müssten wir den Bestand der Windräder in Deutschland verzehnfachen. Aber: Wenn kein Wind weht, sind wir bei null Prozent Windkraftanteil. Deutschland ist ein kleines Land, dichtbevölkert und hochindustrialisiert. Wir haben hier die letzten zusammenhängenden Naturlandschaften. Ein Zerstückeln wäre eine Katastrophe für Mensch, Tier, Biodiversität, Zukunft. Natur braucht Raum, um sich zu entfalten. Wir brauchen „stillen“ Erholungsraum, den das Sauerland zurzeit noch bietet. Auf Einwände von ernstzunehmenden Naturwissenschaftlern und Biologen wird nicht gehört, Schäden für Mensch und Tier kleingeredet. Das ist eine Unverschämtheit, die nicht nur der Natur, sondern auch der politischen Kultur einen gewaltigen Schaden zufügen wird.

WOLL: Welche Lösungen sehen Sie für die Zukunft?
Joachim Wrede:
Wir müssen zurück zu einem einfachen Lebensstil. Weniger Konsum, weniger Energieverbrauch. Dabei kann Vielfältigkeit erhalten bleiben. Wir sollten zum Denken anregen und auf Erkenntnisse der Menschen hoffen. Solidarität und Zusammenarbeit weltweit in Geduld erarbeiten. „Als Menschheit stehen wir vor einer großen Aufgabe“, sagte kurz nach dem Fall der Mauer der weise Bischof unserer Diözese in Mexiko. „Das Haus Welt muss ganz neu gebaut werden. Kleine Renovierungen reichen nicht.“ Andere Länder sind von uns abhängig, wir dürfen auch von ihnen abhängig sein. Mit der Natur in Frieden leben. Raubbau – und nichts anderes ist der Bau von Windindustrieanlagen in unseren letzten Naturlandschaften – muss ein Ende haben. Ein Paradigmenwechsel ist nötig. Wir sind Teil der Natur und nicht ihr Beherrscher. Generationen vor uns und andere Kulturen haben einen sensibleren Zugang zum Leben, zum „Spüren“, den müssen wir zurückerlangen. Im Einklang mit der Natur zu leben macht glücklich, nicht der Konsum und das schnelle Leben. Unsere Generation hat nicht das Recht dazu, kommenden Generationen eine derart zerstörte und zerteilte Natur zu hinterlassen.

Veranstaltungstipp: Pater Joachim Wrede gibt eine Einführung in Kontemplation/Zen am 2. September 2023 von 10 bis 14 Uhr in Kloster Brunnen im Rahmen des „Spirituellen Sommers“.