Familienbande

Quelle: Karin Hessmann

„Wie heißt der denn?“, hörte Ursula ihr Mädchen flüsstern. Sie musste lächeln. Grete war immer in der ersten Reihe, wenn es ein Märchen, eine Sage oder irgendeine andere Geschichte zu hören gab. Sie schüttelte das Tuch, mit dem sie Staub gewischt hatte, etwas länger aus als nötig, um zu hören, worüber die Mädchen unter dem Fenster sprachen.

„Hat keinen Namen“, antwortete das andere Kind, dessen Stimme schon manches Mal wie die einer junge Frau klang. Ursula konnte sich ausmalen, wie die beiden dort hockten, sich Blumen in die Haare steckten und kichernd kleine Schelmereien ausheckten – ein ungleiches Paar. Grete war so klein und dunkel wie ihre Mutter geraten. Ihre Wangen waren rundlich und würden noch lange keinen ernsten Zug einer Erwachsenen annehmen. Ihre Freundin Christine war weizenblond und steuerte in allen Belangen auf das Erwachsensein hin. Dass sie überhaupt Interesse am Spiel mit Grete hatte, erklärte sich Ursula recht pragmatisch mit der Tatsache, dass Christines Elternhaus die nächste Nachbarschaft war und sie auf dem besser gestellten Hof der Halmans ab und an eine Leckerei abstauben konnte. Ursula verübelte es ihr nicht. Das Kind hatte einiges erlebt, und seine Familie war keine rechte Stütze. Außerdem vergötterte Grete sie wie eine ältere Schwester. Darum ließ Ursula die beiden gewähren, so lange sie sich nicht in die Haare gerieten – was durchaus häufiger vorkam.

„Aber er muss doch irgendwie heißen, sonst hast du es dir nur ausgedacht!“, empörte sich Grete, scheinbar aus dem Spiel gerissen.

„Hat er mir nicht gesagt.“

Schweigen … Ursula konnte sich das Schüppchen vorstellen, das Grete zog.

„Na schön … wie würdest du ihn nennen?“, besänftigte Christine sie gedehnt, scheinbar fürchtete sie, dass Grete sonst das Interesse an der Geschichte verlor.

Sofort reagierte Grete, hörbar stolz, gefragt zu werden.„Tofferoth“, sagte sie und kickste.

Ursula erstarrte, blinzelte nervös mit den Augen. In diesen Zeiten war es nicht ratsam, zu fantasievoll daherzureden. Dieser Name deutete auf eine rege Vorstellungskraft und gefährliche Themen hin.

„Ein würdiger Name. Woher hast du ihn? Von deiner Mutter, deinem Großvater?“

Ursula erkannte den hohen Unterton erregter Neugierde in den Worten des älteren Mädchens.„Nein, ich … er ist mir gerade durch den Kopf geschossen. Meine Mutter hat den von Großvater anders genannt.

“Ursula erstarrte beim Wort „Großvater“. Woher wusste ihre Tochter von dieser Unterhaltung, die sie mit Gretes Vater geführt hatte? Niemals hätte Ursula vor ihr über die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit gesprochen! Schon gar nicht jetzt, wo sich erneut eine ähnliche Stimmung im Dorf zu regen begann. Hatte Grete gelauscht? Sobald Christine gegangen war, würde sie mit ihrer Tochter darüber reden, solche Dinge nicht vor jedem zu offenbaren und Geheimnisse zu wahren.

„Und wie hieß der?“

„Wer?“

„Der von deinem Großvater!“

„Eickhorn, glaube ich. Meine Mutter hat in nur geflüstert, als hätte sie Angst vor einem Namen.“

„Toth klingt besser. Geheimnisvoller finde ich“, lobte Christine.

„Finde ich auch. Aber manchmal glaube ich trotzdem, dass ein Eichhörnchen etwas Unheimliches hat. Dieses Rumgehusche und die seltsamen Augen – das feuerrote Fell. Wie eine Hexe.“

Die Mädchen lachten.

Noch.

So beginnt die Erzählung „Familienbande“ von Anja Grevener in ihrem Buch „Giebelritt“ – Literarische Schlaglichter auf die Hexenverfolgungen – in der sie das Schicksal der Oberkirchener Familie Halmann zwischen 1595 und 1630 beschreibt. Tilmann, Ursula, Peter und Greteken Halmann wurden seinerzeit wegen Zauberei und Hexerei auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Vier von 2000 bis 3000 Menschen im Sauerland jener Zeit, die ihr Leben mit der Anschuldigung „DU HEXE“ auf grausame Art und Weise verloren.

Die historischen Hintergründe dieser und anderer Hexenverfolgungen im Sauerland des 16. und 17. Jahrhunderts sind so wie all die anderen in akribisch geführten Gerichtsakten festgehalten. Anja Grevener versucht, die auf den Überlieferungen von Hexenprozessen des Sauerlandes basierenden Daten, einige der Opfer, Täter und bedrückende Schicksale, die hinter den nackten Zahlen, Daten und Fakten stecken, nach Jahrhunderten sichtbarer werden zu lassen.

Das Buch „Giebelritt“ von Anja Grevener ist im Sauerländer Buchhandel, im WOLL-Onlineshop und direkt beim WOLL-Verlag für 14,90 Euro erhältlich. ISBN: 978-3-948496-46-3 – 224 Seiten.

Am 24. Juli stellt die Autorin ihr Buch beim TAG DER OFFENEN BÜHNE in Schmallenberg vor. Ab 15:00 Uhr vor der Stadthalle Schmallenberg.

Am 05. August liest Anja Grevener um 17:30 Uhr im Clubhaus des TC Menden aus ihrem Buch.

Der Eintritt ist bei beiden Veranstaltungen frei.