„Es gab nicht nur den Klostermann.“

Schon seit einem Jahrzehnt tausche ich mich mit dem pensionierten Polizeibeamten Hans-Dieter Hibbeln (Detmold) über das keineswegs nur kriminalistische Thema „Wildern“ aus. Am Anfang stand eine Studie über den Försterstiefsohn Hermann Klostermann (geb. 1837), der im Jahr 2018 auch Gegenstand der Filmproduktion „Jäger und Gejagte“ (Regie: Peter Schanz) geworden ist. Dieser berühmteste Wildschütz in Waldrevieren der heutigen Kreise Paderborn, Höxter, Hochsauerlandkreis und Waldeck-Frankenberg war schon zu Lebzeiten eine „Heldengestalt“. Mit unserer umfangreichen historischen Materialsammlung zum Abschluss einer sechsteiligen Reihe über das Wildern in westfälischen Landschaften zeigen wir jetzt: „Es gab nicht nur den Klostermann!“

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts betätigten sich nämlich weitaus mehr Bewohner der Region im illegalen Jagd-Metier. Die Förster betrachteten ganze Dörfer wie Willebadessen oder Oesdorf als kriminell und verlangten den Einsatz des Militärs. Noch im März 1920 klagte etwa die Oberförsterei Hardehausen: „Kleinenberg ist ein berüchtigtes Wilderernest, in dem bereits eine große Anzahl Gewehre vorhanden ist. Statt nun, wie es von hier aus früher schon beantragt worden ist, den Kleinenbergern durch Militär die Gewehre abnehmen zu lassen, werden solche jetzt sogar noch von Amts wegen verteilt, damit auch diejenigen Einwohner, die bisher nicht im Besitze von Gewehren waren, sich künftig bei den Wilddiebereien beteiligen können.“ Waldkonflikte eskalierten zur Jagd auf Menschen und kosteten auf allen Seiten Menschenleben. Traurige Mordfälle und der Tod armer Schlucker taugen wenig zur literarischen Nutzung für Heimatromantik. Notwendig sind vielmehr sozialgeschichtliche Forschungen. In den bisherigen Buchtiteln liegt für folgende Gebiete schon eine Bestandsaufnahme vor: „Krieg im Wald“ (Hochsauerland), „Wo Wild ist, da wird auch gewildert“ (Siegen-Wittgenstein) und „Heimliche Jagd“ (Kreis Olpe).

Unser neues Werk war gerade fertig, als in diesem Jahr die Meldung über zwei brutale Polizistenmorde durch Wilderer in die Medien kam. Wir erschließen darin unbekannte Archivquellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die die zeitgenössischen Wilderer-Szenen im „Revier“ des Hermann Klostermann betreffen. Jenseits von Legenden-Kulten werden die Akten aufgeschlagen. In der regionalen oder lokalen Geschichtsschreibung ist es hilfreich, dem Publikum gerade auch einander widersprechende Zeugnisse vor Augen zu führen. Die z.T. von gewissenlosen Berufskriminellen ausgeführten Anschläge auf Förster und haben sich ebenso wenig wie fragwürdige Schüsse auf fliehende Wilderer immer so abgespielt, wie es in den alten Zeitungen steht. Befremdlich wirkt es heute, wie sachlich und kühl bisweilen die Auslöschung eines Menschenlebens in den Schriftsätzen abgehandelt wird.

Folgender historischer Gerichtsfall aus dem Raum Marsberg zeigt, wie schnell Konflikte um Ressourcen im Wald in tödlichen Ernst umschlagen konnten: Am 22.05.1851 ist der mutmaßliche Forstfrevler (Holzdieb) Johann Schwander aus Oesdorf erschossen im Wald aufgefunden worden. Hernach behauptet ein sechzehnjähriger Forstlehrling aus Meerhof, er sei der Schütze gewesen. Der jüdische Handelsmann Gottschalk Eichwald (Oesdorf) beeidet aber als Zeuge eine Auseinandersetzung zwischen dem Getöteten und dem Förster Ernst aus Blankenrode, so auch Schwanders Ausruf: „Um eine lausige Tanne werdet Ihr mich wohl nicht totschießen.“ Angeklagt wird jedoch zunächst nicht etwa der Förster, sondern – wegen vermeintlichen Meineides – der wahrheitsgemäß aussagende jüdische Handelsmann!

Zwei Beiträge haben Horst Braukmann und der Historiker Werner Neuhaus (Sundern) für das Buch verfasst. Weitere Abteilungen enthalten exemplarische Fallberichte, zeitgenössische Wortmeldungen zum „Krieg im Wald“ sowie Nachträge mit neuen Funden für das Sauerland, waldeckische Orte und den Kreis Soest. Nachvollziehbar ist durch die Dokumentation jetzt zum Beispiel eine alte Kontroverse im Paderborner Land. Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff hatte 1845 unter Decknamen die Gesetzlosigkeit der Bewohner und die verbreitete Missachtung der Jagdgesetze beklagt. Daraufhin verteidigte ein ebenfalls anonymer Verfasser die Landbewohner. Sie seien mehrheitlich anständige Leute, keine Kriminellen.

Das ganze, jetzt abgeschlossene „Wilderei-Projekt“ soll eine Ermutigung für andere sein, weiterzuforschen. Wir weisen ausdrücklich auf Aktenbände und Zeitungsjahrgänge hin, die noch niemand ausgewertet hat. Das Thema eignet sich geradezu als Schule der Demut für alle Chronisten der Heimat. Wer tiefer gräbt, wird in vielen Fällen nicht mehr behaupten: „So und nur so ist es wirklich gewesen!“

Das neue Buch kann mit ISBN-Nummer überall im Buchhandel bestellt werden: Peter Bürger, Hans-Dieter Hibbeln (Hg.): Es gab nicht nur den Klostermann. Quellen und Berichte zur Wilderei in Westfalen. Norderstedt 2022. (ISBN: 978-3-7557-9778-4; Paperback; 468 Seiten; 19,80 €