Eine kurze Geschichte zum Zeitgeist

 
Wenn wir vom Zeitgeist beseelt sind, umnebeln uns aktuelle Geschehnisse derart, dass das Wesentliche unsichtbar bleibt. Ich würde soweit gehen, dass es Zeitzeugen gar nicht möglich ist, umfassend zu verstehen, welchen Stellenwert Entscheidungen in Zukunft tatsächlich einnehmen. Und dann auch noch das. Wir treffen zwar täglich Entscheidungen, die unsere Zukunft betreffen. Scheinbar haben diese neuerdings eine geringere Halbwertzeit als früher. Reden wir uns deshalb ein, dass alles schneller wird? Und gab es das früher auch schon?

Bestimmt hatten auch früher die Menschen das Gefühl, das Leben wolle sie rechts überholen. Zum Beispiel als es die Menschen von den Feldern in die Fabrikhallen des Ruhrtals zog. Doch wo stünden wir heute, wenn die Annahme, unsere Welt drehe sich von Tag zu Tag schneller, tatsächlich wahr wäre? Vielleicht tröstet uns Schnelligkeit nur als Metapher über den Umstand hinweg, den der Soziologe Hartmut Rosa als Entfremdung beschreibt. Entfremdung beschreibt in seiner Philosophie das drohende Scheitern einer Beziehung mit der Welt.

Zeitreise

Es gab eine Zeit, da ging es manchem Sauerländer nicht schnell genug. Zwanzig Jahre schon wünschte man sich 1871 einen Bahnhof für die Stadt, von dem aus man direkt nach Köln oder Kassel reisen könnte. War es wirklich so, dass alle im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Häuschen waren, als es im Dezember 1871 endlich soweit war und der erste Zug in Meschede einfuhr? Oder gab es Mescheder, die mit dem Umstand fremdelten, dass Meschede an die Welt angeschlossen wird?
Im selben Jahr – in den Wirren des Deutsch-Französischen Krieges – erreichte ein junger Mann Paris. Ebenfalls mit dem Zug. Arthur Rimbaud gilt heute noch als Sinnbild vollendeter Entgrenzung. Sein Leben, das so mancher auf Sicherheit bedachter Sauerländer ablehnen dürfte, beschrieb er mit einem schlichten Satz: „Ich ist ein anderer!“
Fast rechtfertigend fragt uns Rimbaud in seinen Briefen: „Was kann das Blech dafür, wenn es als Trompete erwacht?“ Trefflicher lässt sich ein Prozess der Fremdbestimmtheit wohl nicht beschreiben. Aus dem Sein gerissen durch eine äußere Macht. Die Trompete bleibt Blech. Doch von nun an ist es seine Bestimmung, laut zu sein. Das Blech wird in eine andere Welt geworfen. Allein der Virtuose fehlt, der dem Blech angenehme Töne entlockt.
Und er beschreibt damit seine ganz eigene Entfremdung, der er Zeit seines Lebens versuchte zu entkommen. Doch nutzte er auch das Privileg des Schreibens, sich diesem Gefühl zu nähern; zu einer Zeit als noch nicht jeder ein Blog schreiben oder twittern durfte. Surrealisten feierten ihn für seine Texte. Das macht ihn bis heute zu einem der einflussreichsten, französischen Lyriker.
Zurück im Meschede des Jahres 1871. Als endlich der Mescheder Bahnhof zum Sinnbild wird für ein Angeschlossensein an die Welt, verweigern sich einige Mescheder und kümmern sich so lange es geht um ihr gewohntes Tagewerk, hoffen darauf, alles möge so bleiben wie es ist und doch erreichen die Einflüsse, die eine Eisenbahn mit sich bringt, eines Tages die eigene Lebenswirklichkeit. Lange hatten sie gehofft, der Nebel des Zeitgeistes verzieht sich. Doch jetzt hat sich bereits so vieles geändert. Wie damit zurecht kommen?
Heute ist das ganz ähnlich. Manchmal fehlt uns der Zugang zu den kleinen und großen Dingen, die unsere Welt verändern; wir suchen den Ausgang aus dem Dickicht komplexer Zusammenhänge. Das ist weniger vordergründig als man glaubt. Eher eine dumpfe Panik, die uns glauben lässt, alles zu verlieren. Auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht. Das Gefühl, auf der Strecke zu bleiben, drängt sich auf. Es ist die Komplexität aus der Vielfalt der Möglichkeiten und Ereignisse, die uns überfordert. Wir fühlen uns machtlos und reden uns ein, alles werde schneller. Da kommt man nicht mehr mit. Der Philosoph Hartmut Rosa sagt: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“.
Wie kann das gemeint sein? Arthur Rimbaud lebte im Zustand der Entfremdung und begegnete diesem Zustand mit einem entgrenzten Lebensstil, der ihn nicht einmal 40 Jahre alt werden lies. Allein mit seinen Texten versuchte er, in Resonanz zu stehen mit der Macht, die ihn fremd steuerte. Der Mescheder um 1871, der hoffen wollte, die Eisenbahn als Synonym für Veränderung würde an seinem Leben vorüberfahren, lebt das gegensätzliche Extrem. Er verweigert sich den Veränderungen, winkt ab, lebt sein Leben wie gewohnt, lässt die anderen machen, bis seine Lebenswirklichkeit von den Veränderungen heimgesucht wird. In Resonanz treten kann bedeuten, sich den Bahnhof von innen anzuschauen, eine Reise zu wagen und sich die Vorteile der Eisenbahn für das eigene Leben zu nutze zu machen. Selbst wenn man die Eisenbahn nicht braucht. Man versteht besser, warum andere sie wollen.
Ach wären wir doch fähig, Veränderungen früh genug anzunehmen. Uns bliebe erspart, was wir erst mit Abstand erkennen. Die Zeiten waren gar nicht schneller, sondern uns fehlte nur die Resonanz, die wir nicht suchten, was uns entfremdete, uns zu schnell über einfache Wahrheiten abstimmen lies und umhüllt vom Gespenst des Zeitgeistes dachten, das Schicksal hätte uns überrannt.
Mit etwas Glück, blickt dieser Text in 25 Jahren auf die Welt von 2018 zurück und attestiert dem Verfasser, selbst vom Zeitgeist umnebelt gewesen zu sein.

Eine kurze Geschichte zum Zeitgeist


Eine kurze Geschichte zum Zeitgeist