Quelle: WOLL-Verlag
Oder: Heimat auf Zeit – Warum die Weggezogenen immer wieder zuürck ins Sauerland kommen
Warum ist das so? 2025 feierten wir, der Abijahrgang Schmallenberg 1980, unser 45. Abiturjubiläum. Und es fällt auf, dass gerade die, die unsere Klasse und das Sauerland einst mit wehenden Fahnen verlassen haben, heute besonders gerne wieder zu unseren Klassentreffen nach Schmallenberg kommen? Nicht, dass die Sauerländer, die geblieben sind, weniger gern kämen. Die, die inzwischen in den USA, Kanada, Frankreich, Spanien, Schottland oder sonst wo leben, nehmen oft tausede Kilometer auf sich, nur um an einem Wochenende dabei zu sein. Manche verbinden das gleich mit einem Heimaturlaub, andere fliegen buchstäblich für zwei Tage – und lächeln dabei, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Damals, kurz nach dem Abitur, waren wir vierzig Köpfe voller Träume. Einige von uns konnten es kaum erwarten, das Sauerland hinter sich zu lassen. Wir suchten Weite, Abenteuer, andere Sprachen, neue Jobs, fremde Städte, große Bühnen. Vielleicht auch das Gefühl, jemand Besonderes zu sein. In Schmallenberg, zwischen Fichtenwäldern und Fachwerkhäusern, war es uns manchmal zu eng, zu gleichförmig, zu leise. Es war ein schönes Nest – aber eben ein Nest. Und manche von uns wollten unbedingt rausfliegen.
Die Zeit steht still
Heute, Jahrzehnte später, reisen wir zurück. Und ich frage mich immer wieder: Warum? Vielleicht, weil Heimat ein Ort ist, an dem die Zeit stillzustehen scheint. Hier kennt man uns nicht als die erfolgreichen Professoren in Toronto oder Kalifornien, den Manager in den USA oder Schottland, die Linguistin in Andalusien oder die Journalistin in Berlin. Hier heißen wir immer noch Pit, Lupus, Hermi, Frevi und Fälkchen. Hier sind wir einfach „die von früher“. Wir gehören zu einer Geschichte, die wir miteinander teilen: zu Erinnerungen an Pausenhof, erste Lieben, Lehrer, die wir gehasst oder geliebt haben; zu Dialekten, Gerüchen, Lieblingsorten. Heimat wird mit jedem Jahr mehr ein Ort der Vergewisserung: Wo komme ich her? Wer war ich einmal? Und was ist von dem noch übrig?
Vielleicht zieht es uns auch zurück, weil wir uns fern der Heimat ein Stück weit selbst neu erfinden mussten – und es dann umso schöner ist, dorthin zurückzukehren, wo uns keiner erklären muss, wie wir ticken. Wo keiner fragt: „Wo liegt eigentlich Schmallenberg oder Fredeburg oder Felbecke?“ Sondern wo alle wissen, dass es die Orte sind, die für uns immer ein Teil von uns bleiben werden.
Dieses Jahr hatten wir die 45-jährige Abiturfeier. Gleichzeitig feierte das Schmallenberger Gymnasium sein 100-jähriges Bestehen. Das ist schon was! Wir haben uns alle fünf Jahre seit dem Abitur getroffen. Zu verdanken haben wir das vor allem Schnulli und Hermi, die damals schon wussten, wie ein Computer aussah, und die Adresslisten akribisch führten und auf den neuesten Stand brachten. Wer hatte das schon damals! Lob den beiden – ohne sie wären wir wahrscheinlich kaum zusammengeblieben.
Wenn wir heute so zusammenstehen, ein Glas in der Hand, und unsere alten Geschichten erzählen, gibt es diesen Moment, in dem plötzlich jemand sagt: „Überlegt mal, was alles passiert ist, seit wir 1980 Abi gemacht haben!“
Und dann wird es für einen Augenblick still. Weil wir alle wissen: Da liegen nicht nur vier Jahrzehnte persönlicher Geschichten zwischen uns, sondern auch vier Jahrzehnte Weltgeschichte, die unser Leben mitgeprägt haben – egal, ob wir im Sauerland geblieben oder irgendwo da draußen in der Welt gelandet sind.
Die Welt hat sich verändert
Wir erinnern uns daran, wie es war, als wir noch Schüler waren: Die Welt war damals geteilt. Der Eiserne Vorhang zog sich quer durch Europa. Die Mauer stand. Wir wuchsen mit
Worten wie NATO-Doppelbeschluss, Wettrüsten oder Kalter Krieg auf. Im Radio hörten wir „99 Luftballons“ von Nena, ein Lied, das von Atomkrieg sprach, und trotzdem tanzten wir dazu auf der Klassenfete. Die 1970er und 80er Jahre boten wohl die unbeschwerteste Kindheit und Jugend seit hunderten von Jahren. Da sind wir uns sicher.
Dann kam der 9. November 1989. Die Mauer fiel. Wir saßen zu Hause oder irgendwo in der Fremde, vor kleinen Röhrenfernsehern, manche schon in Schottland, andere in Kanada oder Spanien. Und wir konnten es kaum glauben. Leute liefen plötzlich über die Mauer. Es wurde geweint, geküsst, gejubelt. Am liebsten wären wir alle hin- und mitgelaufen.
Wir erlebten die Wiedervereinigung. Die Golfkriege. Den Beginn des Internets. Den Euro. Wir sahen 9/11 im Fernsehen und dachten, die Welt würde untergehen. Plötzlich war nichts mehr sicher. Und während Flugzeuge in Hochhäuser flogen, lebten wir unser Leben weiter, arbeiteten, gründeten Familien, bauten Häuser – irgendwo auf der Welt.
Wir haben die Finanzkrisen erlebt. Flüchtlingskrisen. Brexit. Corona. Kriege, von denen wir dachten, sie wären in Europa längst vorbei. Und jetzt plötzlich wieder Krieg in Europa. Fast schon unwirklich.
Und trotzdem gab es immer das Sauerland. Es war wie ein sicherer Hafen. Da stehen die Fichtenwälder, da klingen die Kirchturmglocken. Da gibt es immer noch die Wurst an der Fleischtheke im Rewe Markt (vor allem die Leberwurst), die fast genauso schmeckt wie früher. Da stehen immer noch Fachwerkhäuser, die Weltkriege überlebten und aussehen als würden sie auch alles Weitere locker wegstecken.
Geschichten von früher
Wenn wir uns treffen, dann sprechen wir natürlich auch über die Welt. Aber vor allem über uns. Über unsere Geschichten. Über die Frage: Wer waren wir damals, als die Welt noch so klein war? Und wer sind wir geworden, während draußen alles immer größer, schneller, lauter wurde?
Vielleicht kommen wir deshalb immer wieder zurück. Weil es in Schmallenberg Momente gibt, in denen die Weltgeschichte für ein paar Stunden stillzustehen scheint.
Wir sprachen darüber, wer damals in wen verliebt war. Einige Überraschungen waren dabei! Das hatten wir tatsächlich nicht gewusst. Warum haben wir als Jugendliche nicht einfach unsere Liebe gestanden, anstatt sie heimlich in unserem Kopf auszuspielen? Manche Dinge scheinen im Rückblick so simpel. Damals erschien es uns unüberwindbar, irgendwem zu sagen, dass man heimlich verliebt war.
Wir fielen wieder in alte Muster zurück. Fühlten uns plötzlich wie Teenager. Alberten herum. Es fehlten nur noch die Lehrer, denen wir Streiche spielen konnten. Diesmal haben wir sogar einige aus der Sexta zum ersten Mal wieder getroffen, die vor dem Abi weggezogen sind oder abgingen. So schön, so familiär, so vertraut war das – ganz herzzerreißend. Nach der anfänglich zögernden Frage „Wer bist du denn?“, war man gleich wieder da, wo man aufgehört hatte.
Zwei aus unserem Abiturjahrgang sind inzwischen schon verstorben. Wir sind jetzt die „alte Generation“. Unsere Eltern leben meist nicht mehr. Die Gespräche drehen sich plötzlich um Rente, Krankheiten, Reisepläne, Enkelkinder und die letzten Jahre im Job – und darum, wie unwichtig manches geworden ist, was uns früher so wichtig erschien.
Und heute? Wir planen tatsächlich eine Alten-WG im Sauerland. Ich glaube, das fasst unser Treffen am besten zusammen. Wo sonst auf der Welt wollen wir unsere letzten Jahre verbringen? Im Sauerland. Mit lebenslangen Freunden.



