Die Sauerländer sind Menschen mit Ahnung

Interview mit Regierungspräsident Hans-Josef Vogel

WOLL: Herr Vogel, Sie sind gebürtiger Werler und seit vier Jahren Regierungspräsident von Arnsberg. Zuvor waren Sie 24 Jahre lang Stadtdirektor und Bürgermeister der Stadt Arnsberg. Was ist Ihr Blick auf das Sauerland, die flächenmäßig größte Region im Regierungsbezirk?
Hans-Josef Vogel:
Für mich ist das Sauerland die spannendste Mittelgebirgsregion Deutschlands, weil das Sauerland vermeintliche Widersprüche miteinander verbindet, sie dadurch aufhebt und etwas Neues schafft. Das Sauerland ist Waldland, Industrieland, Urlaubsland und Arbeitsland sowie Traditionsland. Das Sauerland ist gleichzeitig auch Innovationsland. Die Menschen sind bodenständig und weltoffen. Das denkt man auf den ersten Blick nicht, aber diese Weltoffenheit und Innovation sind Merkmale der Sauerländer, die in Europa und der Welt durch Perfektion für Produkte Erfolg um Erfolg erzielen. Das Sauerland liegt in einem außergewöhnlichen Regierungsbezirk, der den ländlichen Raum mit dem Ballungsraum als großartige Universitäts-, Forschungs- und Wissenslandschaft verbindet. Daraus schlagen wir Kapital und neue Werte. Partnerschaften entstehen zwischen Unternehmen im Sauerland und Wissenseinrichtungen, insbesondere in Bochum und Dortmund. Dazu kommt die größte digitale Universität, die Fernuniversität Hagen. Das Sauerland ist auch nicht denkbar ohne den BVB. Diese Verbindungen zwischen Ballungsraum und ländlichem Raum erzeugen Fortschritt und Qualität.

WOLL: Sauerland, Sauerländer und Sauerländer Lebensart. Was verbinden Sie mit diesen Kernaussagen?
Hans-Josef Vogel:
Im Grunde genommen Heimatverbundenheit und Bodenständigkeit sowie gleichzeitig Weltoffenheit zu erzeugen. Und das auch zu leben. Daran muss auch das Sauerland weiterarbeiten. Wir diskutieren heute die Chancen, die die ländlichen Räume haben. Das Sauerland hat eine super Chance, wenn es auch urbane Werte aufnimmt, die in den Unternehmen durch die vielen weltweiten Kontakte schon da sind. Um diese vermeintlichen Widersprüche auf den Punkt zu bringen, muss das Sauerland so etwas wie Urbanland sein, also urbane Werte aufnehmen und leben. Die Zukunftsforscher sprechen von progressiver Provinz. Sie sagen auch, Land ist die neue Stadt, wenn es urbane Werte hat. Ich glaube, wir sind auf dem Weg Urbanland zu sein und sollten diese Chance nutzen.

WOLL: Der bekannte Literat Ulrich Raulff hat ein Buch mit dem Titel „Sauerland als Lebensform“ veröffentlicht. Können Sie verstehen, dass man Sauerland sogar als Lebensform beschreibt?
Hans-Josef Vogel:
Ich habe das Buch von Ulrich Raulff mit großem Genuss und viel Zustimmung gelesen. Raulff beschreibt die Lebensform Sauerland nicht eindimensional. Er thematisiert das Sauerland, das Gegensätze zusammenspannt. Die besten Sätze fallen am Ende des Buches: Die Sauerländer sind Menschen mit Ahnung, die die Zukunft erahnen und die sinngemäß ein Gespür dafür haben, was hinter dem Horizont liegt. Diese Gabe, so Raulff, prägt ihre Lebensform und verbindet sich mit dem natürlichen Realismus, der auch aus der Tradition von Menschen stammt, die früher unter schwersten Bedingungen im Mittelgebirge gelebt haben. Da ist wieder diese spannende Verbindung zwischen scheinbar Gegensätzlichem, nämlich dem Realismus aus der Geschichte, den ja auch Annette von Droste-Hülshoff beschrieben hat, und dieser Ahnung, die sie ebenfalls beschrieben hat: etwas zu ahnen, was es noch nicht gibt und zugleich realistisch zu sein. Raulff stellt in seinem letzten Satz fest, anders als von Droste-Hülshoff meinte, dass diese Ahnung Sauerländer nicht zu erfolgreichen Spekulanten, sondern zu fantastischen Fabrikanten macht. Die Menschen hier sind Macher. Das ist die stärkste Passage im Buch.

WOLL: Raulff beginnt das Buch mit einer ebenso spektakulären Passage, indem er sagt, die Sauerländer seien einer der unbekanntesten und unverstandenen Stämme der Deutschen. Wir sind Sachsen und Westfalen, aber vielleicht sind die Sauerländer dann besondere Sachsen und Westfalen.
Hans-Josef Vogel:
Ja, ich glaube das hat mit der Mittelgebirgssituation bei uns zu tun. Weil wir bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht an die schnellen Straßensysteme angeschlossen waren. Da sind gewisse Bilder entstanden und fortgesetzt worden. Aber wer genau hinschaut, der sieht, das ist auch das Sauerland, aber es ist nur ein Teil des Sauerlandes. Der zweite Teil kommt im Wesentlichen dazu.

WOLL: Entgegen aller Globalisierungstendenzen scheinen die Menschen ihre unmittelbare Heimat wieder stärker zu schätzen. Wie sehen Sie das?
Hans-Josef Vogel:
Alle Umfragen zeigen, dass für 90 Prozent der Menschen Heimat besonders wichtig ist. Der Grund ist, dass Globalisierung und Digitalisierung zur neuen Entdeckung von Heimat geführt haben. Auf einmal gibt es Heimatministerien, auch in NRW. Der Punkt ist, dass eine Globalisierung für die Menschen ein Gegengewicht braucht. Das Gegengewicht wird durch Heimat erzeugt. Für diesen Zusammenhang zwischen Globalisierung und Lokalisierung hat man mit „Glokalisierung“ ein neues Wort erfunden. Dieses Wort steht dafür, dass Globalisierung und Lokalisierung ein Paar sind. Entsprechendes gilt für die Digitalisierung. Wir leben in völlig neuen Internet-Räumen, aber wir brauchen auch hier Gegengewichte mit den konkreten Lebenswelten vor Ort. Wir brauchen beide Welten, die globale und die lokale Welt, die digitale und die reale Welt, weil das Vertrauen begründet und Zuversicht schafft. Städte und Kommunen sind Vertrauensorte. Das ist die Voraussetzung für die ungemein positiven Chancen der Digitalisierung und der Globalisierung. Aber um diese Heimat zu erhalten, müssen wir alles tun, um die Klimakrise zu meistern. Wenn wir die Erde weiter erwärmen, war es das für unsere Kinder und Enkelkinder. Wir haben den Auftrag, Heimat in einer ganz neuen Form zu gestalten. Wir müssen sie vor den gewaltigen Auswirkungen des Klimawandels bewahren.

WOLL: Ein sehr umstrittenes Thema ist die Windenergie. Bei WOLL haben wir eine klare Position: Wir wollen etwas fürs Klima tun und sind nicht gegen Windenergie, weil es sinnvoll ist, sie zu nutzen. Aber wir sind gegen Windräder auf den Sauerländer Bergen. Die Berge prägen unsere Heimat. Wenn die Heimat durch Symbole, die da nicht hingehören, zerstört wird, muss man dagegen vorgehen. Wo Windräder entstehen, da wird Heimat zerstört.
Hans-Josef Vogel:
Ich weiß, dass das vielfach so gesehen wird. Aber ich glaube, dass wir zu einem neuen Konsens kommen müssen. Die Zerstörung der Landschaft ist auch bei uns voll im Gange durch die Auswirkung der Trockenheit, Stichwort Borkenkäfer. Wir müssen darüber nachdenken, Windanlagen entsprechend zu bauen. Wie sieht die Architektur aus? Welche Orte wären geeignet? Das Zweite ist, tatsächlich auch über Waldflächen-Solaranlagen nachzudenken. Da haben wir eine weitaus höhere Akzeptanz. Wir werden im Sauerland nicht darum herumkommen, einen Beitrag für erneuerbare Energien zu leisten, weil wir ein anderes Problem haben: Wir müssen den Strom von woanders transportieren. Als Bezirksregierung sind wir für die Genehmigung der großen Stromleitungen zuständig, da wird die gleiche Frage noch mal diskutiert, passt das oder passt das nicht. Wir müssen gezielt Flächen auswählen, die akzeptiert werden. Wir haben auch überlegt, stärker Wasserkraft zu nutzen, aber der Schutz der Fische ist ebenfalls wichtig. Wir müssen auch hier Kompromisse finden.

WOLL: Das sehen wir auch so. Die Kompromisse müssen her.
Hans-Josef Vogel:
Der Kompromiss ist, auch einen regionalen Ausgleich zu schaffen. In meiner Bürgermeisterzeit habe ich auch gesagt, ich will jetzt nicht unbedingt ein Windrad oberhalb der historischen Altstadt von Arnsberg. Aber es gibt schon Standorte, wo es auch geht.

WOLL: Es geht, wie Sie sagen, um regionalen Ausgleich. Also auch um die Solidarität unter den Kommunen, die einvernehmlich sagen, jetzt sind wir alle Sauerland.
Hans-Josef Vogel:
Aber es gibt ja auch viele andere Möglichkeiten. Was in Deutschland immer zu wenig thematisiert wird, ist Energie einzusparen. Das können wir auch als Privathaushalte. Wir können regionale Produkte kaufen oder die Mobilität organisieren. Man muss nicht mit Diesel fahren. Man könnte mit Wasserstoff fahren. Mit diesen Themen müssen wir uns befassen. Die Diskussion um die Windkraft darf nicht dazu führen, in anderen Bereichen nichts zu machen.

WOLL: Um das zu fördern, haben wir uns vor die Aufgabe gestellt, einen Standpunkt deutlich zu vertreten. Der Sauerland-Tourismus ist politisch offensichtlich nicht in der Lage, das im Hinblick auf die Windenergie zu machen. Wenn der Geschäftsführer das machen würde, wäre er seinen Job los. Wichtig ist für uns, dass sich das Sauerland nicht entzweit.
Hans-Josef Vogel:
Deshalb muss die Diskussion offen und kritisch geführt werden. Als Regierungsbezirk haben wir auch den Auftrag, die Sache zu fördern. Es gibt viele Möglichkeiten. Müssen die Windräder so aussehen, wie sie aussehen? Wenn Sie mal durchs Sauerland fahren und Sie sehen die Stromleitungen, da sind die Masten alle dunkelgrün gestrichen und fallen kaum auf. Wir sind gerade in einer Klimakampagne mit den Kommunen, die ist voll auf Solar ausgerichtet. Die Leute wissen aber nicht, wie sie den Strom einspeisen oder ihn für sich selber nutzen. Dann sind sie praktisch Unternehmer. Wir müssen den Blick noch stärker auf diese Solaranlagen richten.

WOLL: Eine Ergänzungsfrage, es geht um Orte, Symbole und Zeichnen für das Sauerland und die Sauerländer Lebensart. Gibt es ein Symbol, ein Zeichen oder einen Ort für Sie?
Hans-Josef Vogel:
Ich beschreibe es anders: Auch in meinem Beruf geht es um die Sauerländer Lebensart, das heißt, diesen Realismus zu nutzen, um Innovationsprozesse anzuregen. Ich rede weniger über das Sauerland, sondern versuche Sauerländer zu sein. Es geht um diese Lebensform. Das habe ich auch erst verstanden, als ich das Buch gelesen habe. Da habe ich gedacht, im Kern hast du das auch und bist irgendwie sehr verbunden mit der Region. Obwohl ich in unserem Ruhrgebiet auch klasse Sachen entdecke: Bochum ist beispielsweise eine Stadt mit 60.000 Studenten, jetzt auch wieder mit einem starken Bundesligaverein. Mit Innovation und Veränderung kann man viel erreichen. Das habe ich auch als Arnsbergs Bürgermeister gesehen, als wir in Deutschland versucht haben, die Kommunalverwaltung umzubauen. Das ist uns auch gelungen. Diese Innovationsprozesse müssen weitergehen. Das gilt insbesondere für die Digitalisierung, besser für die Digitalität. Wie müssen die Menschen dafür gewinnen. Das sieht man wieder die von Raulff beschriebene Lebensform, zu erahnen, was kommt und Realist zu bleiben.

WOLL: Und auch die Ahnung, wann es kommt und nicht zu früh einzusteigen.
Hans-Josef Vogel:
Bei dieser Frage habe ich lange darüber nachgedacht. Ich konnte sie erst beantworten, als ich das Buch gelesen habe. Eben diese Verbindung, beides zu sein. Arnsberg ist eigentlich eine Waldstadt, aber gleichzeitig eine Industriestadt im positiven Sinne.

WOLL: Hat sich das Lebensgefühl aus Ihrer Sicht geändert? Sie sind rund 30 Jahre in Arnsberg und im Sauerland politisch tätig.
Hans-Josef Vogel:
Das Sauerland ist als Innovationsland sichtbarer geworden. Wir erleben heute, was in der Industrie positiv vonstattengeht, weil man sein eigenes Produkt weiterentwickeln und innovativ sein muss. Für viele Menschen ist dieser Innovationsteil sichtbar geworden. Man muss eben genau hingucken, deshalb ist auch Kommunikation so wichtig. Ich habe vor Wochen mal wieder Lanz gesehen, es ging in einer Diskussion mit VW-Chef Herbert Diess um Elektromobilität. Im Hintergrund wurde mit Namen eine Mennekes-Ladestation in Kirchhundem gezeigt. Das ist ein Bild vom Sauerland. Beispielsweise wissen auch zu wenig Menschen, dass mit Infineon in Warstein die Wiege der Halbleitertechnik steht. Denken Sie an das klimafreundliche LED-Licht und Lichtmanagement Sauerländer Firmen. Wen ich auch immer nenne, ist Grohe. Das Unternehmen zählt zu den 50 international führenden im Bereich für Nachhaltigkeit und Klimaschutz.

WOLL: Wie erklären Sie den Bürgern im übrigen Teil des Regierungsbezirkes Arnsberg und darüber hinaus das Sauerland?
Hans-Josef Vogel:
Das Sauerland ist bekannter als wir denken. Es wissen aber eben nicht alle, welche innovativen Produkte aus dem Sauerland kommen. Wenn ich unterwegs bin, dann fällt mir immer ein Produkt ein, das aus dem Sauerland kommt und dort steht. Das finden Sie ja nicht nur im Regierungsbezirk oder in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Das Sauerland ist mit den Produkten überall. All das ist von uns. Ohne das Sauerland würde es beispielsweise keine Elektromobilität geben.

WOLL: Wie wird sich das Sauerland in zehn Jahren darstellen? Wagen Sie eine Prognose?
Hans-Josef Vogel:
Wir werden digitaler und realer, globaler und lokaler, mobiler und ökologischer, älter und jünger, individueller und gemeinschaftlicher. Die Technikmöglichkeiten dazu sind alle da. Das müssen wir gestalten. Die Reise in die Zukunft wird eine Innovationsreise sein. Sonst kommen wir nicht an.

WOLL: Das Sauerland geht die Reise mit. Aber das ist noch nicht konkret. Wie könnte man beschreiben, wie es in zehn Jahren in Arnsberg oder Schmallenberg aussieht?
Hans-Josef Vogel:
Wir werden mehr ältere Menschen haben, die sich wesentlich mehr als heute bürgerschaftlich engagieren. Für die Ältesten werden wir Vorsorgeeinrichtungen haben. Gleichzeitig müssen wir jünger sein. Wir müssen mehr für junge Familien machen. Heute reicht es für viele, die hier leben wollen, nicht mehr aus, dass sie Schule und Kindergarten haben, sondern sie brauchen für die Kinder Ausbildungsorte außerhalb der Schule, nicht nur Schützen- und Sportvereine. Wie können wir Bildungsinitiativen in unseren Dörfern schaffen und unterstützen? Wir werden auch wesentlich digitaler sein. Dann haben wir die Chance, dass die Leute nicht mehr täglich in die großen Städte pendeln müssen. Was bleiben wird, ist diese Kombination Bodenständigkeit und Offenheit. Den Akzent setze ich auf eine stärkere Offenheit. Das gilt auch für die Zuwanderung. Wir haben erhebliche Probleme auf den Arbeitsmärkten, guten Nachwuchs zu bekommen. Das gilt auch für die Lehrerversorgung. Kinder, die nicht geboren worden sind, die können keine Eltern werden, die können aber auch keine Lehrer werden. Das Wichtigste auf dieser Innovationsreise ist, dass wir jungen Leuten Verantwortung übergeben. Wir müssen das als gesamte Gesellschaft mitmachen, insbesondere für diejenigen, die schwächer sind. Wenn Sie sich die Auswirkung der Pandemie auf das Schulwesen anschauen: Die Noten in den Abitur-Klassen sind tatsächlich besser geworden. Diese Schülerinnen und Schüler waren in der Lage allein zu arbeiten. Aber diejenigen, die zu Hause gar keine Unterstützung hatten oder die Motivation alleine zu arbeiten, um die müssen wir uns besonders kümmern. Wir brauchen jedes Kind.

WOLL: Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch und wünschen Ihnen weiterhin eine gute Hand für Ihre Arbeit für den Regierungsbezirk Arnsberg und besonders für das Sauerland.