Die Kraft der Lyrik

Foto: Heidi Bücker

Cyriel Gladines mit Gedichten zur aktuellen Situation

Cyriel Gladines, der belgische Poet, der das WOLL-Magazin mit toller Poesie versorgt, schildert seine Erfahrungen mit der Corona-Pandemie, wie könnte es anders sein, in Form von Gedichten. Auch in Belgien sorgte das Virus für Unsicherheit und Trauer. Der belgische Poet hat zwar kein Gedicht geschrieben, das nur auf die Pandemie ausgerichtet ist oder einen solchen Titel trägt, doch ein bestimmtes Gedicht aus seinem zweiten Gedichtband ist ihm in der Corona-Zeit wieder in den Sinn gekommen.

Die Pandemie bietet uns die Gelegenheit, endlich einmal die Bücher zu lesen, die wir noch lesen wollen, und schürt gleichzeitig das Interesse an Poesie. In seinem Gedicht drückt der Belgier aus, wie Menschen, die eine geliebte Person verlieren, nur feststellen können, dass die Welt sich weiterdreht, während sie erschüttert zurückbleiben und nach Antworten suchen.

Cyriel Gladines hat außerdem ein Gedicht für verstorbene Freunde geschrieben, das in diesen Corona-Zeiten auch denen Trost bieten kann, die jetzt ein Familienmitglied oder einen guten Freund verloren haben.

Keiner wird es wissen

Keiner wird es wissen, wenn du dahingehst. Und
keiner, der stehen bleibt oder sich umwenden
wird. Der Verkehr rast weiter. Die Sonne geht auf,
geht unter, auch ohne dich. Wen kümmert es?

Dann hört das Wallen des Blutes auf. Und auch
das Jagen der Gedanken durch den Kopf wird sich
allmählich verzögern. Alles bleibt stehen wie in einer
alten Uhr, erahnt, aber doch mit einem Schlag.

Man trägt dich weg. Ich schaue dir nach. Wer wird
es sehen? Oder du liegst sehr still und hältst zu lange
den Atem an. Bin ich dann noch da, der auf dich
wartet oder du auf mich? Wer weiß das schon?

Außer mir, außer dir. Wer wird bei mir, bei dir
um den Hals einen Arm legen? Und wer
wird auf unseren Mund noch einen Kuss drücken?
Einer soll doch bleiben, der uns die Augen schließt.

In uns bleibst du lebendig

So wie an frostigen Tagen, kaum durch Kälte berührt,
Kastanien geräuschlos aus der Fruchthülle brechen und noch
nestwarm den Halt verlieren, ehe sie herunterfallen, so glittest du
zu früh aus unseren Händen und ließt du uns verwaist zurück.

Wieviel liebtest du das Leben und die Leute um dich herum.
Bis heimtückisch ein viel zu früher Winter uns befiel.
Still ist das Haus und schwach die Stimmen, die dort summten,
aber die warme Erinnerung an dich hält sie lebendig.

Jetzt, wo du nach deiner letzten Reise angekommen bist,
wo Jahreszeiten dich nicht länger berühren und kein Wort
die Stille noch stört, sprichst du durch unseren Mund,
ehe wir Worte finden. Nie geben wir dich auf.

Obwohl wir deine Stimme nicht mehr hören können, nicht länger
einen Arm um deinen Hals hinlegen können, spüren wir,
dass du begreifst, was wir dir sagen wollen: wie du für immer
in uns weiter lebst und wie stark dein Herzschlag in uns weiter pocht.