Der Hüter der Geschichten

Foto: Gaby Selbach

Mit Yannick Brücher im Archiv der Gemeinde Finnentrop

Was soll man über Archive schon schreiben? Da stauben dicke Akten voll, rümpeln alte Pokale und nie verkaufte Chroniken Flure zu und irgendwo sagen sich Weberknecht und Silberfischchen gute Nacht. Manchmal auch bei Tag, einfach so, aus purer Langeweile. Und erst die Menschen, die dort unten hausen! Als introvertierte Gesellen ohne Privatleben kriechen sie nach Dienstende in ihren Golf II und fahren nach Hause, um sich kurz vor dem Schlafengehen noch eine Folge „aspekte“ anzuschauen.

Foto: Gaby Selbach
Foto: Gaby Selbach

Natürlich ist das Quatsch! Und sollte es dafür tatsächlich noch einen Beweis brauchen, kommt uns dieser in Person von Yannick Brücher gerade auf dem Marktplatz in Finnentrop entgegen. Forsch und wach, wohltuend zurückhaltend und doch blitzgescheit stellt er uns beim Ortstermin vor, wie er seine Tätigkeitsbezeichnung im Arbeitsalltag ausgestaltet. Da geht es bei Weitem nicht bloß ums Abheften und Registrieren.

Große Stahlschränke öffnen sich, Yannick zieht ein Dokument heraus. Eine handgeschriebene ältere Chronik aus Schönholthausen, zwanziger Jahre, in Sütterlin. Muss man können, hat man als B. A. in Geschichte gelernt. In einer Ecke schaut uns aus Kartons der Nachlass des MGV „Sängerbund“ Schönholthausen an. Schalen, Bücher, Pokale, Kassenbücher, Zeugen längst vergangener Tage. Dazu hat der Vorstand dem Archiv die alte Flagge anvertraut. Wenn diese Dinge reden könnten, sie erzählten Geschichten von Geselligkeit, Triumphen. Diese Flagge hing über Gräbern, stand auf Bühnen, atmete Ernte 23, sah Freud und Leid. Wahres Leben eben. Mit all diesem geht Yannick Brücher hier in Austausch. Der Hüter der Geschichten Hält Geschichte anfass- und anschaubar. Möchte Informationsmanager sein, will mit der Zeit gehen.

Foto: Gaby Selbach
Foto: Gaby Selbach

„Dafür braucht man sicherlich auch ein bisschen Ordnungsliebe und Geduld. Ich möchte den Aufbau, den Wandel und den Fortschritt dieses Archivs begleiten.“ Wo andere ländliche Kommunen an Fachkräftemangel leiden, fühlt sich mit Yannick Brücher längst eine solche pudelwohl mit einem Arbeitsplatz in Finnentrop.

„Als studierter Historiker hast du quasi die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Museum, Archiv oder Denkmalpflege. Ich habe mich für das Archiv entschieden – für 90 Prozent der Absolventen nicht die erste Wahl –, weil hier so viele Geschichten auf ihre Entdeckung warten, auf ihre Integration in die heutige Zeit, auf ihre Verflüssigung im Heute.“ Ahnenforscher fragen ihn nach seinen Dienstleistungen, Spurensucher, Heimatforscher. Dann spurtet er runter, schaut, was er findet, und gibt die passenden Informationen in neue Hände.

Foto: Gaby Selbach
Foto: Gaby Selbach

In der recht jungen und vor allem nicht gewachsenen, sondern erst 1969 konstruierten Gemeinde Finnentrop kommt Yannick als Archivar und Öffentlichkeitsarbeiter, der er auch noch ist, eine besondere Verantwortung zu. Es fehle zwischen den Ortschaften, die in relativ hoher Eigenregie und Selbstidentifikation leben, manchmal der bindende Faden. Hier möchte Brücher neues Bewusstsein schaffen dafür, dass wir durchaus stolz darauf sein dürfen, nicht nur Fretteraner, Schliprüthener oder Heggener, sondern auch Finnentroper zu sein. Yannick obliegt die Gestaltung der Gemeinde-Website. Dazu betreut er sämtliche Social-Media-Auftritte der Gemeinde.

„Das große Ding ist natürlich die Digitalisierung. Was du hier siehst, wird irgendwann alles auf den Scanner gelegt. Wir verstehen uns auch als Dienstleister, der das Papier für das Digitalzeitalter in neue Gestalt bringt. Wenn übrigens jemand alte Fotos, Familienalben, Tagebücher oder Feldpostbriefe hat: Bei mir ist all dies in guten Händen. Ich digitalisiere auch für Privatpersonen und gebe diesen das Eingereichte dann wieder zurück.“

Yannick Brücher lädt die Gemeinde dazu ein, sich an sich selbst zu erinnern. Mit seinem Fleiß, seiner Geduld und seinem mannigfaltigen Wissen ist er das ideale Medium, um eine junge Gemeinde beim Wachsen zu unterstützen. Er füttert das Baby Finnentrop mit Information und den Anleitungen, wie man diese erschließ- und verstehbar hält. Er versorgt es mit Identität, die im Magazin heranreift wie guter Wein. Das Archiv ist nicht Endstation, sondern begünstigt neue Anfänge. Letztens war es Kulisse einer außergewöhnlichen Spurensuche. Da hatten Gesamtschüler aus der nahegelegenen Schule kurzerhand das Klassenzimmer gegen die Katakomben getauscht und zum Ersten Weltkrieg recherchiert.

„Schau mal“, meint Yannick zum Abschluss, „in den nächsten Jahren werden unzählige bei Kommunen angestellte Archivare in Ruhestand treten. Ich möchte nicht nur die Gemeinde Finnentrop voranbringen, sondern will auch erreichen, dass mancher Geisteswissenschaftler erkennt, wie lohnend es sein kann, sich auch mit einem auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbaren Ort zu befassen.“

Weberknecht und Silberfischchen haben uns gebannt zugehört. Als gegen halb sechs nachmittags die Archivtür hinter uns zuknallt, freuen sie sich über die Ruhe. Sie wird nicht lange währen, denn schon morgen wird Yannick hier wieder rascheln, wuseln, recherchieren, ordnen, bewerten, kategorisieren, digitalisieren, archivieren. Natürlich wie immer bodenständig, bescheiden und mit guten Manieren.