“Das Schicksal hat mir Höhen und Tiefen in meinem Leben auferlegt.“

Brigitta Hanses über ihre Kindheit auf der Flucht und Umwege nach Bremke

„Meine Mutter hat uns Kindern damals mehrfach das Leben gerettet, weil sie Situationen richtig eingeschätzt hat.“ Davon ist Brigitta Hanses aus Bremke mehr denn je überzeugt. 1938 wurde sie in Falkenau in Oberschlesien geboren. Obwohl der Zweite Weltkrieg (1939–1945) bereits vor der Tür stand, hatten sie und ihre beiden Geschwister eigentlich eine unbeschwerte Kindheit. Eigentlich, denn das sollte sich kurz vor Kriegsende radikal  ändern. Sie war sechs Jahre alt, als ein Soldat Ende Januar 1945 in ihr Elternhaus stürmte, um ihre Familie zu warnen: „Ihr müsst hier sofort weg. Der Russe kommt. In zwei Stunden bricht die Front.“ So zog die Mutter von Brigitta Hanses (geb. Hartelt) in Windeseile ihre drei Töchter (6, 9, 17 Jahre alt) warm an und packte ein paar Habseligkeiten und Lebensmittel auf einen vom Trecker gezogenen offenen Leiterwagen, um sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.

Millionen Menschen waren damals auf der Flucht

„Natürlich war ich zu klein, um zu verstehen, warum das alles mitten in der Nacht, bei minus 25 Grad, so schnell gehen musste. Aber ich war alt genug, um zu spüren, dass die Gefahr groß war“, berichtet Brigitta Hanses. „Ich kann mich tatsächlich sehr gut an vieles erinnern: Unsere Mutter hat uns die ganze Nacht wach gehalten. ‚Nicht einschlafen, sonst erfrierst du.‘ Dabei war ich unendlich traurig, weil ich meine Puppe nicht mitnehmen durfte. Stattdessen musste ich ein Glas mit Hühnerfleisch halten. Das war eben wichtiger.“ Dass Millionen Menschen in dieser Zeit aus Furcht vor der heranrückenden Roten Armee auf der Flucht waren, hat sie erst viel später erfahren. Ihre persönliche „Reise“ ging erstmal 300 Kilometer in Richtung Niederschlesien zum Großvater nach Waldenburg. Doch in Sicherheit war man dort noch lange nicht. Flüchtlinge aufzunehmen stand unter Strafe. So kam, was kommen musste, sie wurden entdeckt und abgeführt. Mit einem Triebwagen voller Frauen und Kinder sollte es nach Tschechien in ein Lager gehen. Nur ein Mann war an Bord und der war Lokführer. „Meine Mutter ahnte offensichtlich, was da mit uns passiert. Sie sah den Lokführer weinen und fragte ihn, wo es genau hinginge. Er meinte: Dorthin, wo alle verhungern werden. Sie ließ den Zug anhalten und stieg mit uns aus. Wie auch immer sie das geschafft hat: Das hat uns das Leben gerettet.“ Der einzige Zufluchtsort war zurück zum Großvater. Der versteckte seine Familie. Vier Wochen später kam der Erlass, dass Familien zusammenkommen dürften. Jetzt konnte man sich öffentlich zeigen und registrieren lassen. Doch der Krieg war noch nicht vorbei und der Russe allgegenwärtig. So wurde die kleine Brigitta Zeugin brutaler Übergriffe und Gewalttaten sowjetischer Truppen. „Unsere Mutter hat uns beschützt und versteckt, aber es sind schlimme Dinge passiert, die einem ‚ohnmächtig vor Angst‘ im Gedächtnis bleiben.“

Das Eigentum wurde entschädigungslos konfisziert.

Als der Krieg zu Ende war, wollte eine große Zahl der geflohenen Schlesier wieder in ihre Heimat zurückkehren. Dies versuchte auch Brigittas Mutter, allerdings nahm sie nur eine ihrer Töchter mit. Die anderen beiden Töchter sollten später nachkommen. Doch Schlesien stand unter russischer Besatzung, wurde schließlich vom Deutschen Reich abgetrennt und Polen zugesprochen. Das Eigentum ihrer Familie wurde somit entschädigungslos konfisziert. Nun war klar, dass die Heimat keine mehr war und nie wieder eine werden konnte. „Meine Mutter ist vertrieben worden. Sie hat eine Odyssee mitgemacht, die uns fünf Jahre getrennt hat. Davon hatten wir drei Jahre gar keinen Kontakt. Schlimm, diese Ungewissheit. Von Lager zu Lager, bis sie in Winterberg landete und per Brief Kontakt aufnehmen konnte“, erinnert sich Brigitta Hanses. So konnte sie schließlich Ende 1950 nicht nur wieder bei der Mutter wohnen, sondern auch in Winterberg die Schule besuchen.

Sollte das Sauerland ihre neue Heimat werden?

Nach der Mittleren Reife fing Brigitta zunächst in einer Unterwäschefabrik in der Versandabteilung an. Bald danach ergab sich die Möglichkeit, beim Fernamt in Meschede eine Beamtenlaufbahn zu starten. Aus dieser Zeit gibt es akribisch geführte Arbeitstagebücher. Darin schrieb sie damals auf, wie eine telefonische Verbindung beziehungsweise Vermittlung h ndisch hergestellt wurde. So kam es im Jahre 1958, dass sie eine Verbindung für einen Teilnehmer nach Cobbenrode herstellen sollte. Der Auftraggeber musste warten, aber sie konnte das Telefongespräch erfolgreich abschließen. Dieser wollte sich „beim Fräulein vom Amt“ für ihre Bemühungen bedanken und machte sie im Fernamt ausfindig. Der Beginn einer großen Liebe: Hubert Hanses aus Bremke. 1960 wurde geheiratet und die beiden bekamen vier Söhne. Ein Jahr nach der Silberhochzeit im Jahr 1986 ist ihr Mann verstorben. Die gemeinsame Firma „Hanses GmbH“ in Bremke wird heute von zwei Söhnen geführt. So ist das Sauerland schließlich zu ihrer wahren Heimat geworden. Die 83-Jährige wohnt mittlerweile in einem Appartement im Esloher Störmanns Hof: „Hier genieße ich meinen Ruhestand. Noch bin ich selbstständig, kann aber jederzeit Hilfe in Anspruch nehmen, wenn nötig. Ein gutes Gefühl.“ „Das Schicksal hat mir Höhen und Tiefen in meinem Leben auferlegt. Ohne den Glauben an Gott hätte ich manches nicht überwunden und wäre daran zerbrochen.“

Quelle: Brigitta Hanses

Eine kreative und künstlerische Begabung liegt in der Familie

Aber nicht nur der Glaube an Gott hat sie getragen, auch der Glaube an sich und ihre Fähigkeiten hat sie stark gemacht. „Dass ich ein kreatives Talent habe, war mir erst gar nicht klar. Für meine Kinder habe ich damals die ersten Gedichte geschrieben und später auch dazu die entsprechenden Bilder gemalt. Aber dass das etwas Besonders ist, war mir nicht bewusst“, gibt Brigitta Hanses offen zu. Obwohl schon ihr Großvater und ihre Schwestern ebenfalls eine enorme kreative Ader bewiesen. Somit war es irgendwie normal, dass man künstlerisch veranlagt war. Erst als der Mescheder Grundschullehrer Franz-Josef Knippschild sie auf ihr Talent und ihre Lernfähigkeit aufmerksam macht, will sie es wissen. Ein Studium für Grafik und Design, das wäre ein Traum. Doch dazu reichte ihr Schulabschluss nicht. Somit entschließt sie sich, „etwas später“, im Alter von 54 Jahren, das Abitur zu machen. Zweieinhalb Jahre später, verbunden mit vielen Stunden auf dem Abendgymnasium in Arnsberg nach ihrer Arbeit im Familienunternehmen, hat sie den Hochschulabschluss in der Tasche. Und das Studium konnte gestartet werden. Heute hat sie eine beachtliche Sammlung an Bildern und Texten/Gedichten, die ihr Talent für Kunst in Wort und Bild belegen. Das Ganze mal in einem Buch zu veröffentlichen, steht noch aus.