Das Licht am Ende des Tunnels

„Mein Bedürfnis ist es hier im Jetzt zu sein!“

Gespräch mit dem Sauerländer Maler Thomas Jessen über heute und morgen

Seine Gemälde hängen in bekannten Galerien, schmücken Kirchen und Altäre, sind der Mittelpunkt in Wohnzimmern, Arbeitszimmern und neuerdings in Kantinen und Versammlungsräumen. Gerade wurde die beeindruckende Ausstellung „Anwesen“ mit Gemälden des Sauerländer Künstlers im Schloss Rödinghausen in Menden beendet. Seit Wochen arbeitet Thomas Jessen in seinem Atelier im alten Bahnhofsgebäude von Eslohe an einem monumentalen Altargemälde für die Pfarrkirche St. Stephanus und Vitus in Corvey. Die Kirche ist ein Teil von Schloss Corvey, dessen Westwerk der Kirche und der Civitas Corvey im Juni 2014 den Status eines Weltkulturerbes verliehen bekommen hat. Beim Besuch im Atelier haben wir uns mit Thomas Jessen über seine Arbeit, seine Kunst und seinen künstlerischen Blick auf das Sauerland und diese Zeit unterhalten, im Angesicht des noch im Entstehen befindlichen neuen Altargemäldes.

Unser Besuch im Atelier des Malers Thomas Jessen erfolgt einen Tag, nachdem heimische, politische Prominenz sich ein Bild von den Werken des bekannten Sauerländer Malers gemacht hat. Alles ist ungewohnt aufgeräumt. Der Blick auf das am Ende des Ateliers die ganze Rückwand bedeckende Altarbild erfüllt den Raum. Magisch wird der Blick auf die moderne Darstellung der Auferstehungsgeschichte gelenkt. „Es leuchtet! Das Licht am Ende des Tunnels. Das Bild strahlt eine innere Freude aus“, so ist unsere Antwort auf die konkrete Frage des Künstlers: „Und was sagt Ihr zu dem Gemälde?“

Und schon sind wir mitten im Gespräch mit dem 1958 im westfälischen Lübbecke geborenen Künstler.

WOLL: Gerade ist die vielseits beachtete Ausstellung „Anwesen“ im Gut Rödinghausen in Menden zu Ende gegangen. Was hat diese Ausstellung ausgezeichnet?
Thomas Jessen:
(nachdenklich) Dass man den dort gezeigten Porträts sehr nah kam. Der Präsenz der dargestellten Personen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen und gesellschaftlichen Schichten konnte man nicht ausweichen. Es kam zu einem intensiven Gegenüber. Berührt werden von einer anderen Person, das ist eine Stärke meiner Gemälde. Dass sie berührend wirken. Die Resonanz: Boah! Und in jedem Raum war eine andere Person. Das schaffte eine emotionale Berührung und Begegnung, wie sie sonst nur selten entsteht.

Bei Thomas Jessen geht es fast immer um Begegnungen. „Begegnungen mit Menschen, die man kennt und dann im Gemälde sieht, sind etwas Besonderes. Es entsteht ein Bezug zu den Personen, zu dem Ort. Man nimmt die Person anders wahr. Ist das nicht der, der auf dem Gemälde ist? Solche Begegnungen gab es bei der Ausstellung“, sagt der Künstler und ergänzt: „Ich habe für die Ausstellung Personen aus Menden und der Region gemalt, bei denen ich wusste, dass sie etwas mit Menden oder Eslohe zu tun haben. Ein Großteil der Porträts zeigt Menschen aus der Region.“

Sauerländer und Künstler

WOLL: Hat sich für den Maler Thomas Jessen die Gesellschaft im Sauerland in den vergangenen Jahrzehnten geändert?
Thomas Jessen:
Das würde ich nicht sagen. Seit ich hier lebe, hat sich nicht so viel getan. In die Zukunft blickend, bahnt sich allerdings etwas an: Windräder auf den Bergen und in den Wäldern. Doch insgesamt ist die Welt hier mehr oder weniger noch in Ordnung. Das Sauerland ist weder verschlafen noch rückständig. Es gibt hier mehr Lebensqualität als in der Großstadt. Man hat hier viel mehr Muße und muss nicht viel Zeit für unsinnige Dinge wie Parkplatzsuche verwenden. Wir haben viel Grün und es ist nicht zu heiß. Es ist schön hier.

Man merkt dem Künstler die Achtung und Liebe für seine Heimat an. Auch bei der Diskussion über die Kunstszene hier im Sauerland ist Thomas Jessen keinen Augenblick eine abwertende Meinung oder Haltung über das Sauerland und seine Bewohner zu entlocken. „Nur ist möglicherweise der künstlerische Austausch etwas dünn. Es gibt hier weniger Künstler als in den urbanen Centren und das Verständnis für Kunst ist begrenzt. Der Sauerländer ist bodenständig. Kunst ist für ihn schön und gut, sollte aber nicht mehr als fünfzig Euro kosten.“

Thomas Jessen erklärt: „Ich liebe die normalen Menschen, die nichts mit Kunst zu tun haben. Ich schätze ihre Meinungen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich jetzt Gemälde in Pausen- und Aufenthaltsräumen heimischer Firmen aufhänge. Das ist kein Verkaufstrick. Mich interessiert, wie die Reaktionen der Arbeiter und Angestellten sind. Die Menschen bringen den Gemälden ihre Wertschätzung auf ihre eigene Art und Weise entgegen. Aber es kommt keiner auf die Idee, sie zu zerstören oder zu beschädigen, auch wenn so ein Kunstwerk grundsätzlich überhaupt nicht interessiert. Dahinter verbirgt sich das Urbedürfnis der gegenseitigen Wertschätzung, was meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft gestört ist.“

Menschliches Miteinander

Ohne Umschweife wechselt Thomas Jessen die Perspektive und plötzlich sprechen wir über das Sauerländer Schützenfest. „Marschmusik ist wie eine Liturgie. Holzstöckchen mit Blumen oben dran als Gewehre kann man blöd finden. Ich finde so etwas schön. Dazu gehört auch der festliche Zapfenstreich. So etwas brauchen wir Menschen, um glücklich und zufrieden zu sein“, meint Jessen, der selbst Trompete im Blasorchester Eslohe spielt und sich auf die Schützenfeste freut, wo der Musikverein aufspielt. „Durch die Abwendung von der Kirche, die in der Vergangenheit vieles ausgefüllt hat, was das menschliche Miteinander ausmacht, wird sich zeigen müssen, wie unser Miteinander in Zukunft aussieht. Ich kann nicht sagen, wie es weitergeht“, mahnt der Maler, während wir auf das monumentale Altarbild im Hintergrund schauen.

WOLL: Was soll dieses Altargemälde den Menschen sagen?
Thomas Jessen:
In diesem Fall geht es um noch viel Tieferes. Um Ostern. Um die Auferstehung. Dass ich als Person auferstehe. Die Frage davor lautet: Wer bin ich denn? Erst durch die Begegnung mit einem anderen bin ich zu einem Ich geworden. Da stellen sich viele komplizierte Fragen. Was ist Glaube? Und schon steht man im Dunkeln. Was ist Gott? In barocken Altarbildern ist der Heilige Geist immer als Taube dargestellt. Da denke ich heute eher an die lästigen Tauben in Düsseldorf. So kann man den Heiligen Geist heute nicht mehr darstellen.

Die Dreieinigkeit „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ ist die Urfrage im Christentum. Gott als Synonym für die Schöpfung. Gott ist das All, ist, was Leben ins Leben ruft. Aus Gott kann ich nicht rausfallen. Ob ich lebe, krank bin oder sterbe. Und der Sohn – der Mensch, in dem Gott Fleisch geworden ist. In jedem Menschen begegnet mir Gott, der isst, der trinkt, der ganz normale Bedürfnisse hat. Und nach drei Tagen im Grab hat man Durst, muss etwas trinken. Der Künstler zeigt auf die Wasserflasche im Gemälde.

Thomas Jessen erzählt mit Hingabe über seine Liebe und Treue zur Kirche. „Kirche ist etwas, was zu mir gehört. Ich kenne das nicht anders. Ich bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Erst evangelisch, dann katholisch. Die Kirche ist meine Heimat, dort bin ich zuhause. Doch heute wird die Sprache der Kirche nicht mehr verstanden. Die Kirche kann leider immer weniger Menschen ansprechen und muss sich fragen lassen, wie sie das besser machen kann. Wenn ich das Menschsein heute darstelle, was ist das? Ein Bild muss immer eine Vereinfachung sein und kann daher nicht alles abdecken, was mitzuteilen wäre.“

WOLL: Und was ist mit dem Heiligen Geist?
Thomas Jessen:
Dass alles mit allem verbunden ist. Das berührt mich. Man betrachte eine Spinne. Mein Respekt diesen Tieren gegenüber beispielsweise wird mit zunehmendem Alter immer größer. Wenn du jung bist, musst du dich darum nicht kümmern.

Bezogen auf das in Arbeit befindliche Altargemälde resümiert der Künstler: „Wir brauchen neue Möglichkeiten, uns auszutauschen, um darüber zu sprechen. Es gab immer einen Grund, ein Bedürfnis, mit Altargemälden, mit Bildern überhaupt zu versuchen, etwas zu erklären. Wenn unsere Vorfahren in die Kirche gingen, dann sollten sie auf etwas Schönes schauen. In den Kirchen in Berghausen oder Wormbach kann man das sehen. In anderer Form im Prinzip in allen Kirchen. Wenn ich dahingehe, muss es schön sein. Ähnlich verhält es sich mit den Galerien der Könige in den Schützenhallen. Es gibt ein Bedürfnis, das zu sehen. In diesem Zusammenhang frage ich mich: Wo soll das Bedürfnis für Kunst und Kultur herkommen, wenn die Kirchen als Ort selbiger auch noch wegbrechen?

Quelle: WOLL Magazin

WOLL: Woher kommen Ihre Inspirationen für die Gemälde?
Thomas Jessen:
Ich habe das große Glück, dass ich auf alte Gemälde in den Kirchen zurückgreifen kann, dass ich mit dieser Sprache umgehen kann, dass mir das etwas sagt, was ich dann weiterdenken kann.

Dieses Gemälde für Corvey ist aus dem Glauben herausgewachsen, was jedoch fast meine Kräfte übersteigt, mein gewöhnliches Format übersteigt. Ich kann es nicht händeln.

Die Proportionen meines Körpers prägen das Gemälde. Es muss, wenn es fertig ist, abgespannt werden, um es später in Corvey aufzuhängen. Es ist eine Parabel, was ich gerade male. Es übersteigt unseren Horizont und mein Format – und sogar die Möglichkeiten in der Kirche, in der es später aufgehängt wird.

WOLL: Sagt das Gemälde den heutigen und zukünftigen Generationen: Das ist der Sinn des Lebens?
Thomas Jessen:
Nein. Ich kann nur aus mir selbst etwas machen, nicht für andere sprechen. Der Sinn des Lebens ist das Sinnliche, das, was unsere Sinne erspüren können. Und ich kann nur mit den eigenen Sinnen an ein Bild herangehen. Ich male jetzt. Für heute. Nach meinem Tod ist mir egal, was über mich und die Gemälde gesagt wird. 500 Jahre sind eine lange Zeit. Kauft sie jetzt!

Im weiteren Verlauf des Gespräches gibt uns der Sauerländer Maler noch einige Gedanken mit auf den Weg.

„Brecht es auf die Sinne runter! Das ist es. Geht respektvoll mit euch um. Leben gibt sich weiter. Es geht weiter. Jede Geburt ist Auferstehung. Das macht mich zuversichtlich. Es wird sich regeln. Wir können nicht anders. Wir müssen wachsen.“

„Ich betrachte die Gesellschaft mit Dankbarkeit und Gelassenheit. Ich darf malen, finde Menschen, die zum Glück noch bereit sind, dafür Geld auszugeben. Geld ist kein Wert an sich! Weder Lohn noch Almosen. Es ist eine Notwendigkeit. Es ermöglicht einige Freiheiten. Ein armer Künstler ist etwas Schreckliches. Jetzt habe ich die Freiheit, das zu machen, was ich machen will. Mein Gott, was bin ich ein glücklicher Mensch. Ich hoffe, dass es noch ein paar Jahre gutgeht. Man kann es hoffen! Die Jahre, die ich bisher hatte, waren tolle Jahre.“

„Was wird aus meinem Haus? Was wird aus meiner Fotosammlung? Ich muss bald sterben. Ich habe keinen Platz mehr für meine Gemälde. Ist mir egal. Ich hinterlasse den Kindern ein Ärgernis mit den vielen Gemälden. Kunst ist ein unwirkliches Möbel, das man schlecht wegwerfen kann.“ „Wir leben jetzt. Wenn ich hier reinkomme. Alles von mir. Ich bin privilegiert. Ich habe kein Werkverzeichnis. Ich habe Schwierigkeiten, alles zusammentragen. Es würde mich viel Energie kosten, das alles aufzulisten.“ „Mein Bedürfnis ist es nicht, zu schauen: Was habe ich alles gemacht? Mein Bedürfnis ist es, hier im Jetzt zu sein.“

WOLL: Dann bleibt noch die Frage: Warum sind Sie Maler geworden?
Thomas Jessen:
Weil mir nichts Besseres einfiel! Ich wollte immer nur Pfarrer werden. Lehrer wollte ich nicht werden. Wirtschaft liegt mir nicht. Eigentlich kann ich nichts Richtiges. Als Maler brauchst du einen inneren Durchhaltewillen! Du verdienst nicht sofort etwas! Es braucht keiner. Es ist Glück und Zufall, wenn du professionelle Kunst machst und davon leben kannst.