Das Leben im Sauerland aus Sicht eines Borkenkäfers

Was für ein herrliches Jahr! Ach, was sag‘ ich – herrliche Jahre! Paradiesische Zustände waren das. Erst die trockenen Sommer, dann die milden Winter – wunderbar!

Bleibt nur zu hoffen, dass der nächste Winter uns auch wohlgesonnen ist und es mit dem Klimawandel so schön weitergeht. Meine Familie und ich sind ja Fans von der gemeinen Fichte. Die steht, wo sie steht, läuft nicht weg und ist mittlerweile so geschwächt, dass wir ein leichtes Spiel haben. Fressen, fressen, fressen. Wunderbar!

Entschuldigung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Borkenkäfer Scolytidae, Ipidae, aus der Familie der Palyphaga. Meinen exakten Namen möchte ich nicht nennen, aus Angst vor Verfolgung. Ich hoffe, Sie verstehen das. Meiner Familie und unseren zahllosen Nachbarn wird seit einigen Jahren im ganzen Sauerland auf übelste Weise nachgestellt. Ziel der Spezies Mensch ist es, uns zu vernichten. Das weiß ich aus sicherer Quelle. Schließlich sind schon tausende meiner Bekannten mitsamt dem Baum der Kettensäge zum Opfer gefallen. Sollte es jemand bis auf den Container nach China schaffen, ist auch seine Zukunft ungewiss. Deshalb möchte ich hier lieber anonym bleiben. Wo war ich stehengeblieben?

Ah ja, die paradiesischen Zustände. Das Sauerland ist für uns Borkenkäfer das reinste Schlaraffenland. Fichten, wohin man schaut. Zugegeben, im letzten Sommer wurde es an manchen Standorten schon etwas eng, da wir dermaßen viel Nachwuchs bekommen hatten. Aber da die Temperaturen im Mittel ja stetig ansteigen, können wir uns mittlerweile auch in den höher gelegenen Wäldern des Hochsauerlands ausbreiten.

Ab Mitte April beginnt unsere Saison. Wenn die Temperaturen auf über 16°C steigen und wir 14 Stunden Tageslicht haben, fühlen wir uns am wohlsten. Dann schwärmen wir Männchen aus, suchen für unsere Liebsten einen schönen Platz für die Brut und locken sie dorthin. Früher war es nicht so einfach, einen Ort zu finden, der unseren anspruchsvollen Weibchen gefiel. Aber in den letzten Jahren ist die Auswahl so groß, dass wir fast schon die Qual der Wahl haben, wo wir uns niederlassen sollen.

Drei aufeinanderfolgende trockene Sommer haben den Wäldern ordentlich zugesetzt, und Stürme wie Friederike 2018 oder Eberhard 2019 haben vielen Fichten dann den Rest gegeben. Windwurf, Schneebruch und Trockenheit schwächen zunehmend auch die jüngeren Bäume. Außerdem finden wir mittlerweile viele Bestände, die über vierzig Jahre alt sind und sich altersbedingt auch nicht mehr gut gegen uns Borkenkäfer wehren können.

Haben wir einen optimalen Baum gefunden, bohren wir uns durch die Rinde und legen dort Brutgänge an. Da wir so zahlreich sind, wird früher oder später die Bastschicht der Fichte zerstört und damit der Nährstofftransport unterbrochen. Manche von uns schleppen außerdem Pilze an, die dem Baum zusätzlich schaden.

Dummerweise erkennen findige Forstarbeiter unsere Bohrlöcher, das Bohrmehl und die Rinde, die schließlich vom Baum fällt. Außerdem wirft die Fichte ihre Nadeln ab und verfärbt ihre Kronen – da sieht ja auch ein Laie schon von weitem, dass der Baum tot ist. Anstatt uns einfach fressen zu lassen – ich sag nur: leben und leben lassen –  jagen die Förster uns seit letztem Jahr extrem viele Waldarbeiter mit Motorsägen und großem Gerät auf den Pelz. In Sekundenschnelle fällt so ein Harvester einen Baum, der Jahrzehnte wachsen musste, um so groß zu werden.

Quelle: WOLL Magazin

Und mit dem Baum sterben auch wir. Einige von uns können noch fliehen und auf andere Bäume ausweichen, aber sobald die Rinde abgeschält wird, sind unsere Larven verloren. Zum Glück produzieren wir aber so viel Nachwuchs, dass wir dem gemeinen Waldarbeiter immer einen Schritt voraus sind. Zahlenmäßig sowieso.

Mit Friederike fing alles an. Nach dem Sturm im Januar 2018 sollte das sogenannte Schadholz zunächst nur langsam dem Markt zugeführt werden, um den Holzpreis stabil zu halten. Der folgende Sommer war aber so extrem heiß und trocken, dass wir Borkenkäfer nicht nur das noch nicht abgefahrene Holz, sondern auch die geschwächten, noch lebenden Bäume besiedeln konnten. Was ein Schmaus!

Als sie mit dem Abfahren des Schadholzes nicht mehr hinterherkamen, haben die Menschen versucht, uns mit chemischen Pflanzenschutzmitteln zu vertreiben, aber auch die konnten uns in der Summe nichts anhaben. Wir sind einfach zu viele. Zugute kam uns auch, dass sie sich Forstbetriebe teilweise nicht auf Forstschutzstrategien einigen konnten und verschiedene Interessengruppen sich gegenseitig im Weg standen. Zudem gab es Konkurrenz um Forstunternehmer.

Das alles hat Zeit gekostet. Zeit, die wir Borkenkäfer zur weiteren Ausbreitung genutzt haben.

Bei optimalen Bedingungen produzieren wir nämlich zwei bis drei neue Generationen im Jahr. Eine von uns besiedelte Fichte entlässt pro Brut über 20.000 Jungkäfer, die wiederum neue Bäume befallen. Schon klar, dass Waldbesitzer und Förster da das Grausen bekommen.

Wir machen das ja nicht absichtlich, wirklich! Wir wollen ja nicht, dass ganze Wälder sterben. Aber die Bedingungen sind einfach zu gut. Und wenn der Mensch nicht bald eingreift und etwas gegen den Klimawandel unternimmt oder wieder nur auf Profit setzt und Fichten in Monokulturen pflanzt, sehe ich für meine Enkel- und Urenkelgenerationen keine Gefahr.

Blöd wäre, wenn die Menschen tatsächlich endlich umdenken und zukunftsfähige Bäume pflanzen würden, die mit Wetterextremen und Hitzejahren besser umgehen können. Aber bis das passiert, wird es noch dauern, zum Käferglück gibt es ja noch genug Ignoranten und Klimawandelleugner.

So, es hat mich gefreut, aber nun muss ich los. Weiterfressen.