Das Leben im Sauerland aus der Sicht …einer Amerikanerin

Quelle: privat

Dawn Michelle d’Atri lebt mit ihrem Mann und jüngsten Kind in Würdinghausen, wo sie als freie Lektorin und Übersetzerin arbeitet. Nichts Besonderes also? Doch, denn Dawn ist Amerikanerin. Und WOLL möchte wissen, wie es denn so ist, das Leben im Sauerland aus der Sicht einer Amerikanerin.

WOLL: Wie lange lebst du schon in Deutschland?
Dawn: Ich bin 1987 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Mit 16 habe ich am Parlamentarischen Patenschafts-Programm (Youth for Understanding) teilgenommen und in einer Gastfamilie in Herne gewohnt. Dort wurde ich sehr herzlich aufgenommen, aber niemand in der Familie konnte ein Wort Englisch. Und ich hatte auch nur ganz geringe Deutschkenntnisse. Also habe ich in diesem einen Austauschjahr die deutsche Sprache gelernt.

WOLL: Und wann bist du ins Sauerland gezogen?
Dawn:
Nach meinem Studium in den USA bin ich Mitte der 1990er Jahre wieder nach Herne gezogen und 2009 schließlich zu meinem jetzigen Mann ins Sauerland.

WOLL: Was ist in Deutschland grundsätzlich anders?
Dawn:
Ich weiß nicht, ob generell in den USA, aber zumindest in Montana, da wo ich aufgewachsen bin, gibt es keine Schulpflicht für Kinder. Während hier in den meisten Grundschulen im Klassenverbund von der ersten bis zur vierten Klasse unterrichtet wird, oft auch von immer der gleichen Lehrerin oder dem gleichen Lehrer, wird in den USA die Klasse in jedem Jahr neu gemischt. Hinzu kommt, dass die Menschen in den USA viel häufiger umziehen und deshalb öfter neue Schüler in eine Klasse kommen. Ab Klasse 7 hat jeder Lehrer einen eigenen Raum, den die Schüler dann aufsuchen müssen, statt eines gemeinsamen Klassenraums für alle.

In den USA gibt es auch kein Einwohnermeldeamt, wo die Menschen registriert sind, und dort hat auch niemand einen Personalausweis.

Was die Mentalität betrifft, so empfinde ich die Deutschen im Allgemeinen als nicht so offen wie die Amerikaner. In den USA kann es schon mal passieren, dass dir eine völlig fremde Person im Flugzeug einfach so ihre komplette Lebensgeschichte erzählt, während du in Deutschland auf einer Party stehst und dich niemand anspricht. Das würde dir in den USA bestimmt nicht passieren.

WOLL: Hattest du Vorurteile gegenüber dem Sauerland und den Sauerländern, oder Bedenken, aufs Land zu ziehen?
Dawn (lacht):
Nein, überhaupt nicht. Und das Landleben war ich ja aus Montana gewohnt. Wenn du dort aus einem Ort herausfährst, kommt kilometerweit nichts als Wildnis. Und ich meine richtige Wildnis. Da fühle ich mich hier manchmal eher schon eingeengt, wenn in drei Kilometern schon der nächste Ort kommt.

WOLL: Und umgekehrt – bist du hier schon mit Vorurteilen oder gar Anfeindungen konfrontiert worden?

Dawn: Nein, im Gegenteil. Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren war das Bild von Amerika in Deutschland sehr positiv und ich wurde überall sofort aufgenommen. Bei manchen Freunden von mir aus Russland oder Ungarn ist das leider nicht so. Das finde ich traurig und einfach ungerecht.

WOLL: Wenn es denn den Sauerländer an sich gäbe, welche Eigenschaft würdest du ihm zuschreiben und was macht ihn aus?
Dawn:
Ich glaube, dass der Sauerländer sehr treu ist, wenn er die andere Person erst mal besser kennengelernt hat. In den USA sind Freundschaften im Moment auch tief, aber dann auch wieder flüchtiger, da die Menschen so häufig umziehen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Da ist der Sauerländer schon stetiger, glaube ich.

Was den Sauerländer noch ausmacht? Hier wird definitiv mehr Bier getrunken als im Ruhrgebiet. Bezeichnend ist ja die Olper Tied. (lacht)

WOLL: Apropos, gibt es noch andere Bräuche, die dich anfangs irritiert haben oder die du vielleicht sogar bis heute abstrus findest?
Dawn:
Neu war für mich der St. Martins-Umzug, das Lütteke-Singen und die Karnevalsveranstaltungen überhaupt. Karneval finde ich toll, ich war auch schon in Köln und auch hier im Ort aktiv dabei.

Ziemlich irritierend fand ich hingegen anfangs das Schützenfest: Ausschließlich Männer schießen mit einem fest installierten Gewehr auf einen Holzvogel? Das war mir wirklich fremd. In meiner Heimat werden schon Kinder im Umgang mit dem Gewehr geschult, um ihre Eltern beim Jagen zu unterstützen. Außerdem kann man in der Wildnis auch mal einem Bären gegenüberstehen! Aber da nimmt man lieber „Pepper Spray“.

Und noch etwas verstehe ich bis heute nicht: Warum wird bei einer Party immer vorher abgesprochen, wer was zu essen mitbringt? Das kannte ich so nicht. In den USA gibt es das sogenannte Potluck, wo jeder mitbringt, was er möchte. Und wenn dann zehn Mal Baked Beans da stehen, ist es halt so.

WOLL: Gibt es etwas, mit dem du dich nie anfreunden wirst?

Dawn: Schwierigkeiten hab ich manchmal mit der deutschen Direktheit. Viele Leute meinen, immer und überall über andere urteilen zu müssen und sogar ihre Meinung ungefragt zu sagen. Das stört mich schon und ich glaube, da sind die Amerikaner etwas zurückhaltender und diplomatischer.

WOLL: Welche Angewohnheiten oder Eigenschaften hast du schon übernommen?

Dawn: Ich spreche andere Menschen nicht mehr einfach so an.

WOLL: Welche amerikanischen Bräuche hast du beibehalten und in deiner Familie, bei Freunden, in der Schule oder im Ort eingeführt?

Dawn: Wir feiern Halloween! Und ich bin froh, dass es seit ein paar Jahren auch hier endlich Schnitzkürbisse zu kaufen gibt. Allerdings ist Halloween in den USA gar nicht so gruselig, wie es hier immer dargestellt wird. Dort verkleiden sich die Leute eher wie hier an Karneval, also gar nicht unbedingt gruselig.

Außerdem feiern wir natürlich den 4. Juli, typisch mit amerikanischer Flagge auf einem Kuchen, und Thanksgiving, ganz traditionell mit Truthahn.

WOLL: Was würdest du gerne einführen oder ändern, wenn du könntest?

Dawn: Ganz klar: Die doppelte Staatsbürgerschaft und das Potluck.

WOLL: Vermisst du etwas aus deiner Heimat?

Dawn: Auf jeden Fall die Rocky Mountains und die Wildnis dort, und auch die Lockerheit der Menschen, also die Fähigkeit, schnell miteinander ins Gespräch zu kommen.

WOLL: Was wünschst du dir für andere Menschen, die nach Deutschland kommen?

Dawn: Ich wünsche mir, dass Menschen aller Nationalitäten so aufgenommen werden wie ich als Amerikanerin, dass die Gesellschaft die Integration und Inklusion besser hinbekommt und Menschen aus dem Ausland schneller mit den Deutschen in Kontakt kommen. Es fehlt vielen ein bisschen an Leichtigkeit und dem Mut zum Smalltalk.

Außerdem darf es nicht sein, dass Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern vor dem deutschen Gesetz unterschiedlich behandelt werden, was etwa die Einreise- und Visabestimmungen betrifft. Da müsste sich auf politischer Ebene unbedingt etwas ändern.

WOLL: Was ist aus deiner Sicht – neben der Sprache – das Geheimnis einer gelungenen Integration und eines guten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten?

Dawn: Ganz einfach Offenheit Neuem gegenüber und das Interesse an anderen Kulturen.

WOLL: Herzlichen Dank für deine Zeit, deine Ehrlichkeit und die original amerikanischen Peanut Butter Cookies!